"Das (Bürgertum) hätte es eigentlich gar nicht geben sollen", sagt der Schriftsteller Uwe Tellkamp in einem Interview und meint jene bildungsbesessene Schicht in der DDR, die Bücher sammelte und Antiquitäten, deren Ausflüge den Museen galten und den Galerien, und meint auch, dass in der DDR diese Schicht nicht gewollt gewesen sei. Das ist ein weit verbreiteter Grundirrtum. Von den sozialdemokratischen Arbeiterbildungsvereinen bis zur durchweg linken Intelligenz der Weimarer Republik: Neben dem polternden Arbeiterführer Thälmannscher Prägung fanden sich in der DDR alle Traditionslinien der deutschen Linken. Und insbesondere der ererbte humanistische Anspruch, keineswegs immer gelebt, verschaffte der DDR eine Fülle von Küchen-Salons der bildungsbürgerlichen Eliten.

Eine Kaskade von Worten, in einen großen Strom mündend, droht den Leser hinweg zu schwemmen: Schon die Einleitung, ein einziger Satz über fünf bedruckte Seiten, eine mächtige Beschreibung der Stadt Dresden, als einer Miniatur der untergehenden DDR, scheint dem Autor das Recht der Grossen zu geben, der Klassiker, den Lesern alles abzuverlangen, ihnen den Atem zu rauben, um sie am Ende der fast tausend Seiten in eine ungewisse Freiheit zu entlassen. Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" stellt den grossen Anspruch. Es ist zu prüfen, ob er ihm gerecht geworden ist.

Die letzten sieben Jahre der DDR, die Zeit ihrer Agonie, beschreibt Tellkamp aus der Innensicht der Dresdner Bildungsbürger: Über der Elbe erhebt sich der Stadtteil "Weißer Hirsch", jene Ansammlung verschnörkelter Bürgerhäuser, die wie die Burgen des nachgeahmten Adels, mit Türmen und Zinnen bewehrt sind. Dort leben die Figuren des Autors, die Ärzte, Schriftsteller, Musiker und, gleich nebenan, auch der Wissenschaftler Manfred von Ardenne, im Buch Arbogast genannt, einer vom "roten Adel". Auch wenn die Roten später untergehen sollen, die Geschichte will es so und dem Autor ist es recht, findet er doch solche wie Ardenne, die den Bildungsbürgern Satisfaktion geben können, die, häufig genug Zyniker und Zweifler, dem untergehenden System jenen Glanz verleihen, den Tellkamp braucht, um aus der DDR die Bühne für ein Weltendrama zu bauen.

Dort, wo das Personal Tellkamps wohnt, heißen die Häuser "Abendstern" oder "Tausendaugenhaus" und die Katze in einem der Häuser trägt einen Namen aus acht Silben. Niemand fährt dort Straßenbahn, man lässt sich mit dem "Hechtwagen" transportieren, einem eleganten Schienenfahrzeug, dessen sich die Dresdner rühmen. Und bei Bedarf zitiert man das Hildebrandslied, jene althochdeutsche Dichtung, die den Germanisten bekannt, den gewöhnlichen Menschen aber eher gewöhnungsbedürftig ist. Im Zentrum steht, als ein feinfühliger Cicerone durch die Agonie der DDR, der um sich herum die ganze Kompliziertheit der kränkelnden DDR erfährt, der Arztsohn und künftige Arzt Christian. Die Ähnlichkeit Christians mit dem Autor ist eher nicht zufällig: Beide waren Panzerkommandanten in der NVA, beide sind Mediziner. Doch sollte man sich hüten, die von Tellkamp beschriebene Welt als schlichte Kopie zu begreifen. Der "Turm" ist Literatur. Eine, die sich aus der Wirklichkeit nimmt, was sie braucht, um sie wirklicher zu machen.

"So sind sie hier oben alle . . . sie seufzen "Frauenkirche" . . . und "Hach, die Semperoper!" aber sie sagen nie "die Nazis", sondern "die Tiefflieger", denkt Meno, ein Onkel Christians, einer dessen Eltern im sowjetischen Exil waren und dessen Mutter nicht zurückgekehrt ist, über das Viertel, in dem er lebt. Und gehört doch dazu, der hochgebildete Lektor in einem der besseren DDR-Verlage. Und ein Lektor in der DDR, was kann er anders sein als ein Zensor? So tauchen sie denn alle auf, die Dekorationen der DDR: Der ständige Versorgungsmangel, die Informanten und Agenten der Staatssicherheit, die alten DDR-Witze, die gehorsame Presse und der staatliche Krieg gegen solche, die ausreisen wollten. Und alles stimmt und alles ist mit einer Sprachwucht beschrieben, vor der ein geringerer Schreiber sich nur verneigen kann.

Und doch, bei so viel Liebe zum Detail, bei der üppigen Fülle der vielen, vom Autor hervorgebrachten Bilder, solcher Art, dass man glaubt zu schmecken, zu riechen, zu fühlen, fragt eine fast übertönte Stimme: War sie nur so, die DDR? War da kein Platz für große Literatur, für großes Theater, für Debatten unterhalb des "Neuen Deutschland" und damit erst recht oberhalb des Verstandes einer verknöcherten Parteiführung? War sie nicht auch ein Land in Konkurrenz zum Nachbarn, wie der ganze marode Sozialismus doch immer noch dazu taugte, dem Westen einen Schrecken einzujagen, einen Schrecken, der die Schrecken der Globalisierung in Schach hielt?

Kein Roman hat die Aufgabe die Welt zu erklären. Seine Figuren sind nicht einfach die Haltung des Autors, verteilt auf das Romanpersonal. Und doch haben Leser das Recht, die Haltung des Autors erlesen zu wollen. Selten sagt Tellkamp etwas selbst. Doch einmal, zu Beginn einer glänzenden Beschreibung der Leipziger Messe und der Bücher klauenden Lesewut ihrer Besucher, findet sich ein preiswerter Witz, nicht gedeckt durch eine der Romanpersonen: Es sei eine Messe im Jahr der Apokalypse gewesen, "Lektoren, Verleger, Autoren: Alle waren finster entschlossen, unterzugehen" schreibt der Autor, und dann lässt er einen Gast aus dem Westen wünschen, den Weltuntergang wenigsten in der Abendröte vor seinem Toskanahäuschen zu erleben. Alles linke Koketterie schreibt uns der Autor, Pershing hin, Cruise Missiles her, die Gefahren lauerten anderswo.

Die letzten Tage der DDR spielen bei Tellkamp in Leipzig, jener Stadt, in der auch das Bildungsbürgertum ernsthaft eine andere DDR einforderte. Statt der anderen DDR kam das vereinte Deutschland, der selbstbewusste Ausruf "Wir sind das Volk" endete, kläglich bittend, in "Wir sind ein Volk". Am 9. November schließt Tellkamps Roman mit der Kreml-Uhr, die stehen bleibt, während die andere Uhren eine neue Welt einläuten und mit ihrem Schlag triumphierend verkünden: "Deutschland einig Vaterland". Fast zwanzig Jahre danach scheint mir der Triumph schal, der Erkenntnisgewinn aus Tellkamps Buch gering. Angesichts der außerordentlichen Begabung des Autors wünsche ich mir allerdings unrecht zu haben.