Wer auf die WebSite des Leipziger Dokumentarfilm-Festivals schaut, der findet dort als wesentliches Signet einen Baskenbemützten Kameramann, der wahrscheinlich die kleine, fette, naturalistische Taube filmt, die aus dem rechte Bildrand heraus spaziert. Aber Tierfilme waren in Leipzig fast nie zu sehen. Der Slogan des Festivals, der früher auch mal "Filme der Welt für den Frieden der Welt" hieß, erschöpft sich heute in "the heART of documentary". Nun mag ja der alte Slogan in die Jahre gekommen sein, der Frieden leider nicht. Auch mit dem ungelenken, anglizistischen Gefummel von der Kunst, die ein Herz sein will, kann ich leider keinen Frieden schließen. Vielleicht weil bei der Anglizyste auch Kunstherz herauskommen kann und wer will so eins schon auf einem Festival erwerben. Der Perforation sei Dank: Ralf Schenks Buch ist anders. Gemeinsam mit vielen Autoren lässt er den geneigten Leser an 50 Jahren des Leipziger Festivals teilnehmen. Er und seine Chronisten erzählen von guten wie schlechten Filmen, von guten und schlechten Zeiten und darüber, wie der Dokumentarfilm bis heute überlebt.

Wenn einer politisiert war, wenn einer am Geschehen in der Welt und seiner filmischen Verarbeitung und deren Protagonisten interessiert war, dann war natürlich das Dok-Filmfestival bis zur Wende, die beinahe sein Ende bedeute hätte, das Ausnahmefestival. Nirgendwo auf der Welt fanden so viele engagierte, couragierte und bekennende Einseitler für ein paar Tage zusammen wie eben im fettigen Novembernebel des Leipziger Festivals. Einseitig bestanden sie auf Ihrer Kunst und standen auf der anderen Seite der Barrikade: Für die Vietnamesen gegen die USA, für die Chilenen und schon wieder gegen die USA und selbst Roger Moore, damals ein relativ unbekannter Filmemacher, der für seine Arbeit "Roger & Me" 1989 eine silberne Taube bekam, war gegen jene dünne US-Schicht, die mit ihrem hässlichen Schatten das schöne Amerika verfinstert.

Das Jahr `89 markierte das Ende des DDR-Festivals wie es auch das Ende der DDR markierte. Draußen vor den Kinos lief der spannende Film, der mit "Wir sind das Volk", dieser anspruchsvollen, mächtigen Behauptung begann und noch während der Dok-Filmwoche in der ebenso praktischen wie kläglichen Bitte "Wir sind ein Volk" mündete. Wenn sich in den vielen Jahre zuvor auf den dickenTeppichen des Nobel-Hotels "Astoria" die legere, internationale Elite des politischen Films traf, wenn die Latinos Gittare spielten, die Deutschen kräftig soffen, die Palästinenser irgendetwas Arabisches skandierten, was nur von der polyglotten Filmemacherin Monica Maurer simultan in fünf weitere Sprachen übersetzt werden konnte, dann hatte das seinen Preis. Wenn man im Festival-Restaurant "Thüringer Hof" seinen Sauerbraten für 2,68 Mark der DDR aß, in der unterirdischen riesigen Festival-Kneipe "Bastei" bis in den Morgen einen auch nicht mehr ganz nüchternen Nachbarn versuchte von der Weltrevolution zu überzeugen, dann war das vielleicht vergeblich, aber nicht umsonst. Dieses Biotop der internationalen Solidarität war gut ummauert und bewacht und die Bananen auf dem alljährlichen Eröffnungsempfang im Leipziger Rathaus wurden der Bevölkerung vom Munde abgespart.

Preise anderer Art zahlten Filmemacher, die bei ihrer Arbeit auf der revolutionären Seite ums Leben kamen oder ihr Leben bis in die Verwundung gefährdeten. Es war eben, wie der Buchtitel sagt, eine gespaltene Welt, eine Welt in der die Leute auf der Seite Chiles oder Kubas, ob sie wollten oder nicht, auf der Seite der Sowjetunion waren. Man kannte das, wenn man sich im Westen Deutschlands nicht konform verhielt, wurde man gerne aufgefordert "rüber" zu gehen. Wurde einem das lange genug erzählt, war der Weg zum Leipziger Dokfilmfestival nicht mehr weit. Ein Weg auf dem ich gerne die Grenzkontrollen ignorierte, um mir schuldfrei die Filme großartiger Filmemacher wie Santiago Alvarez, Heynowski & Scheumann oder Chris Marker anzusehen. Und natürlich auch von den vielen anderen, weniger bekannten Filmemachern, die mit ihren sozialen, internationalen und durchweg kämpferischen Themen nach Leipzig kamen. Nicht selten aus Ländern, die keine Filmtradition hatten und mit dem Film begannen ihre nationale Identität sowohl aufzuzeichnen wie zu formen.

"Bilder einer gespaltenen Welt" beginnt mit einem Bericht über die Verleihung der "Gesamtdeutschen Gartenzwerge" an die schlechtesten Filme des Jahrgangs und sie werden im Jahr 1956 von den Herren Knietzsch ("Neues Deutschland") und Wehling ("Die Welt") verliehen und gesamtdeutscher als mit dieser gemeinsamen Verleihung durch das Zentralorgan der SED und das Zentralorgan des rechten, westdeutschen Feuilletons ging es wirklich nicht mehr. Wenn das Buch im Jahr 2006 endet, dann schien die Welt zwischendurch und kurzfristig ungespalten, die Geschichte an ihrem Ende angelangt, aber die soziale Spaltung, der Hauptstoff für die Filme in Leipzig, hat dann doch wohl nie aufgehört zu existieren. Ralf Schenk und seine Mitschreiber lassen diese 50 Jahre im Spiegel der Leipziger Filme noch einmal aufscheinen, imaginieren Kultur und Geschichte und liefern eine Arbeit ab, die weit über die Chronistenpflicht Gesellschaft und Politik erinnert. Wie ein guter Dokumentarfilm eben.