Schon vor der Berlinale (8. 2. - 18. 2.) kann man einige der dort gezeigten Filme sehen.

Die RATIONALGALERIE beginnt ihre Berlinale-Berichterstattung mit diesen Filmen.

Das Viertel: Süleymaniye einst, nach der osmanischen Eroberung Konstantinopels, das Herz Istanbuls, heute ein Überbleibsel, enge Gassen, schäbige Holzhäuser, dumpfe Keller und Höfe dominieren ein Kontrastprogramm zur modernen Türkei. Der Mann: Muharrem, ein kleiner verhuschter Mensch, vierzig Jahre alt, immer noch im Haus seiner verstorbenen Eltern lebend, keine Frau, kein Kind, der ergebene Handlanger eines wichtigtuerischen Sackhändlers, der devote Anhänger eines Derwischordens. Muharrem, einfühlsam gespielt von Erkan Can, wird für neunzig Minuten unser Führer bei einer Reise in den orthodoxen Islam sein. Eine Reise, die Geduld und Verständnisbereitschaft erfordert, eine Reise die klüger macht, eine Reise, die unmerklich zur Anklage gerät, zu einer Anklage gegen jegliche Orthodoxie.

Der unscheinbare Muharrem, dessen Tagesablauf vom Aufstehen, der Hilfsarbeit und dem Zubettgehen bestimmt ist, findet Trost im Gebet. Im Gotteshaus gleich nebenan, in der Gemeinschaft anderer Gläubiger, fühlt sich die furchtsame Seele aufgehoben. Es ist eine Glaubensgemeinschaft der besonderen Art. Einer der in der Türkei eigentlich verbotenen Derwischorden wird präsentiert, eine Sekte, die in der Halblegalität der laizistischen Türkei geduldet wird und deren religiöser Fanatismus sich nicht selten auf das Schönste mit mafiöser Geschäftigkeit verbindet (wer das für islamtypisch hält, der kennt sich in der christlichen Religionsgeschichte nicht aus). Wenn die Kamera unsicheren Schritten des Muharrem in die Moschee folgt, dann gelingen ihr die eindrucksvollsten Bilder des Films: Männer, natürlich sind die Frauen nur als Zuschauer zugelassen, singen sich in Trance, kreisen ihre Oberkörper rhythmisch, fühlen sich eins mit der Gemeinschaft und ihrem Gott, ergeben sich einem mystischen Tanz, der ihre Seele berührt oder, zumindest temporär, ihren Geist verwirrt.

Regie und Kamera lassen keine Minute Zweifel daran aufkommen, dass die scheinbare Egalité der Gläubigen von klaren Hierarchien geprägt ist. Der Sheikh, eine Ehrfurcht gebietende Gestalt, erwartet und bekommt untertänigsten Respekt, nur gebückt nähern sich ihm die Mitglieder der Gemeinde, um seine Hand zu küssen und um seinen Segen zu erbetteln. Eben jener hochgewachsene, weißbärtige und fast den Allmächtigen überragende Sheikh entdeckt den kümmerlichen Muharrem als ein nützliches Werkzeug. Er soll, so verkündigt es der religiöse Führer, dem gar nicht so lieben, dem eher zu fürchtenden Gott die Almosen organisieren. Der tief gläubige Muharrem hat gar keine Wahl, zwar zögert er das Junggesellenhaus und die Fotos seiner Eltern zu verlassen, aber nach kurzem Widerstreben zieht er in das Kloster der Gemeinde und bewohnt eine der großen Zellen, nicht ahnend, dass sein Glaube in seiner neuen Tätigkeit einer Prüfung unterzogen werden wird, die er sich nie hätte vorstellen können.

Kleine, nächtliche Prüfungen kennt er schon, denn der linkische Muharrem hat des Nachts Träume von schönen Frauen, in deren Ergebnis am Tag Flecken aus dem Nachtgewand zu waschen und sündige Gedanken mit dem Gebet zu vertreiben sind. Da der orthodoxe Islam Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließt, da die Ganzkörperkondome, in die Frauen solcher Glaubensrichtungen komplett gehüllt sind sogar das simple Anschauen ausschließen und unser Protagonist nicht verheiratet ist, hat der Vierzigjährige mit den Problemen eines Pubertierenden zu kämpfen. Wer das exotisch findet, der sollte sich an die gar nicht so lange zurückliegende Zeit erinnern, in der in Mitteleuropa die Onanie als Ursache von Rückenmarksschwund bezeichnet wurde und daran, dass die "Selbstbefleckung" bis heute zum Sündenkatalog christlicher Kirchen gehört.

Mit dem Modernisierungsdruck, den sein neuer Job mit sich bringt, hat Muharrem nicht gerechnet. Da das Netz der ökonomischen Interessen der Sekte umfänglich ist - man besitzt Mietshäuser und Werkstätten, man erhält beträchtliche Schutzgelder und hinterzieht natürlich Steuern - rüstet der Sheikh unseren Muharrem mit allen Insignien des modernen Businessman aus: Handy, dunkle Anzüge und schwarzes Auto mit Fahrer, schicke Schuhe und die unerlässlichen gedeckten Krawatten auf weißen Hemden zieren den bisher bescheidenen Handlanger. Mehr noch setzt ihm ein religiöser Konflikt zu: Darf er Geld von denen nehmen, die selber kaum genug zum Leben haben, kann er auch bei denen kassieren, die dem Glauben zuwider Alkohol trinken, darf illegales Geld dem Herrgott ein Wohlgefallen sein? Seine sexuellen Träume werden häufiger und ausführlicher, er fürchtet sich vor dem wirklichen Leben und vor dem verheißenen nach dem Tod. Es ist diese Furcht vor Gott, die ihn krank werden lässt, er flieht in die Krankheit aus dem Konflikt zwischen der Moderne und dem alten, vertrauten Glauben.

Der Film - Regie Özer Kiziltan, Buch Önder Çakan - ist nicht immer bis zu Ende gedacht. Aber er zeigt mit seinem Protagonisten warmherzig und klug eine Parabel auf viele islamisch geprägte Länder: Die Unsicherheit gegenüber dem Westen, die Angst in der Globalisierung unterzugehen, der Schock einer fremdbestimmten Modernisierung, das alles kann krank machen. Dem Regisseur, fallen dazu klare Worte ein: "Wenn der Koran weiterhin von Leuten interpretiert wird, die das (altertümliche) Verständnis von ihm haben wie Muharrem, dann sind seine Anhänger alle lebende Bomben der Verrücktheit." Takva/Gottesfurcht wurde beim "Golden Orange Filmfestival" in Antalya mit Preisen überschüttet. Rund eine halbe Million türkischer Zuschauer hat ihn bisher gesehen, ab Februar ist er in den deutschen Kinos Während der Berlinale zeigt in die Sektion "Panorama"). Man sollte ihn sich anschauen, auch, um von der Furcht vor dem Fremden zum Verstehen zu gelangen.

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