Amerika du hast es besser
Als unser Continent das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Goethe, Den vereinigten Staaten

Es gibt Romane, die sind knochentrocken wie Hundekuchen. Das kommt von einem Zuviel an Realität. Hans Joachim Schädlich ist es gelungen, so einen zu schreiben.
Die Detailverliebtheit des Autors gipfelt in zwei seitenlangen Buninzitaten. Iwan Alexejewitsch Bunin, der 1933 als erster russischer Schriftsteller einen Nobelpreis bekam (den Tolstoi einst abgelehnt hatte), gilt als letzter großer Vertreter des russischen Realismus. Unser Autor dagegen stammt wohl eher vom sozialistischen Realismus her, der Elemente des Naturalismus absorbiert hat.

Schädlichs Roman arbeitet mit den Fragmenten der Erinnerung an die russische Emigration, die durch die Oktoberrevolution ausgelöst wurde. Sein Protagonist ist Fjodor Kokoschkin (der Vatersname bleibt unerwähnt), ein emeritierter Botanikprofessor aus Boston (USA). Er hat das biblische Alter von 95 Jahren erreicht und einiges zu erzählen. Gottlob ist er noch gut beisammen, hat keine Gedächtnislücken und vergeudet seine Zeit nicht mit der Suche nach Gebiss und Hörgerätebatterien. Auch Einlagen sind anscheinend nicht im Handgepäck.

Der Uralte hatte sich im Jahr 2005 auf eine Rundreise durch Europa gemacht zu den Stätten seiner Kindheit und Jugend: Sankt Petersburg, Berlin und Prag. Dabei begleitete ihn ein pensionierter Tscheche, mit dem Kokoschkin 1968 in der Goldenen Stadt die letzten Tage des Prager Frühlings erlebt hatte.

Die Rückfahrt nach Boston auf der Queen Mary 2 beginnt für Kokoschkin im September in Southampton. Der Greis rekapituliert während der Atlantiküberquerung die Stationen seines Europabesuchs und erinnert sich.

Der Vater des kleinen Kokoschkin war Mitglied der provisorischen Regierung gewesen und wurde zu Beginn der Revolution in Petrograd von den Bolschewiken ermordet. Nach der Flucht aus dem vom Bürgerkrieg verwüsteten Sowjetrussland strandeten Mutter und Sohn zu Beginn der Zwanziger Jahre in Berlin, dem Lieblingsaufenthalt russischer Emigranten. Denn die meisten wollten der Heimat möglichst nahe sein, um bei einem Umsturz sofort zurückkehren zu können. Auch Gorki lebte damals in Deutschland und kurte in Bad Saarow. Kokoschkins Feststellung, dass der Lebensunterhalt des Gorki-Clans kostspielig gewesen sei, ist übrigens falsch. Wer über Devisen verfügte, lebte während der Inflation in Deutschland unglaublich günstig.

Kokoschkin besucht das Joachimsthalsche Gymnasium in Templin und kann sich im Alter noch namentlich seiner Lehrer erinnern, nennt aber merkwürdigerweise keine Spitznamen, die doch am längsten im Gedächtnis haften bleiben. Wegbegleiter des jungen Kokoschkin sind der Dichter Wladislaw Felizianowitsch Chodassewitsch und der Schriftsteller Iwan Bunin, die ihn beide in der Jugend beeinflussen. Den Berlinbesuchern Ilja Ehrenburg und Marina Zwetajewa begegnet er leider nicht.
Nach 1933 geht die Odyssee weiter nach Prag und von dort rettet sich der angehende Biologe lange vor dem Zweiten Weltkrieg in die USA. Kerenski verschafft ihm das Einreisevisum.

Die Hauptperson hat wie die Masse der Emigranten das an Flüchtlingsströmen überreiche Europa des 20. Jahrhunderts mehr leidend als handelnd erlebt.
Die Tragik des Exils, das Heimweh nach Mütterchen Russland, die Durchsetzung der Emigrantenszene mit GPU-Agenten, all das bleibt im Roman unerwähnt. Unvorsichtige Heimkehrer landeten in den Stalinschen Knochenmühlen, traditionell beschickt mit Trotzkisten, Kulaken und Volksfeinden. Das Schicksal der Familie Zwetajewa-Efron ist exemplarisch.

Die politischen Ideale des naturalisierten Amerikaners Kokoschkin werden nicht wirklich verdeutlicht. Doch wenn ich die Intention des Autors recht verstanden habe, wären in Mittel- und Osteuropa die jeweiligen demokratischen Optionen (Provisorische Regierung, Weimar, Reformkommunismus) allemal dem diktatorischen Gang der Geschichte (Oktoberrevolution, Faschismus, realer Sozialismus) vorzuziehen gewesen. Aber das sind Binsenweisheiten der Geschichtsbetrachtung.

Immerhin ist die Rahmenhandlung auf der Queen Mary 2 sehr instruktiv. Für Unterhaltung wird reichlich gesorgt. Unter anderem nimmt der fünfundneunzigjährige Kokoschkin an einer Karaoke-Show teil und schmettert „Bei mir bist du scheen“ in der Version der Andrews Sisters. Die minutiös beschriebenen Speisefolgen der Mahlzeiten erlauben das figurbewusste Schlemmen, sozusagen spätrömische Dekadenz im Fitness-Club.
Gut betuchten älteren Semestern, die lange schon von einer Kreuzfahrt auf der Queen Mary 2 träumen, ist deshalb die Lektüre von Schädlichs Roman sehr anzuraten. Ihr werdet euch traumhaft sicher auf diesem Luxusliner bewegen und satt werden, ohne euch dick zu fühlen.
Und versäumt nicht, einen Hit von Howard Carpendale zwecks Karaoke einzustudieren!

Alternativ empfehle ich der Müslifraktion unter unseren LeserInnen, wie auch allen, die leicht seekrank werden und nicht singen können: Lest mal wieder Bunin. Oder vielleicht etwas von Mandelstam, Babel, Zwetajewa… Steht alles in der Leihbibliothek.