Es ist ein mitleidloser Blick, den der Film "1. Mai - Helden der Arbeit" auf die alljährliche Kreuzberger Randale-Folklore wirft. Ein kalter Blick, der rote Fahnen streift, eine lächerliche Barrikade und den routinierten, alljährlichen Bullenauftrieb. Wannen soweit das Auge reicht. Und doch ist der fabulöse Kreuzberger Mai nur Folie, nur zeitweilige Drehscheibe von gewöhnlichen Menschengeschichten, Schnittpunkt von Episoden eines gewaltsamen deutschen Alltags.
Uwe ist eine Seele von Mensch, ein bisschen füllig sitzt er in seiner Polizeiuniform, er wird aus der Brandenburger Provinz in die Hauptstadt kommandiert und wäre doch lieber in seinem Bett geblieben, die Decke über die Ohren gezogen. Sein Bett ist kalt an diesem frühen Morgen, so kalt wie seine Frau, die sich von ihrem Liebhaber mit dem dicken Auto unverfroren bis vor die Tür des immer noch nicht abbezahlten Häuschens bringen lässt. Uwe muss zum Dienst, für eine größere Szene bleibt keine Zeit und außerdem, er liebt sie doch.
Aus einem anderen Ort in der Provinz machen sich Jacob und Pelle auf die weite Reise nach Berlin. Einmal echte Gefahr erleben, einmal auf irgendeinen Putz hauen, einmal groß raus kommen und vielleicht nie wieder in die kleine Stadt zurückkehren, so lautet das Programm. Eine leise Ahnung beschleicht den Zuschauer: Es wird nicht so komisch werden, so wie die Kommentare der Medien des großen Krawalls anderntags die kaputten Autos aufzählen und sich lustig machen werden über das immer gleiche Bild der Transparente, des Schwarzen Blocks und der blechernen Stimmen aus den Megaphonen.
Mit Yavuz, dem gerade mal elf Jahre alte Türken, der unbedingt einen Bullen töten will, dem reizenden kleinen Kerl mit dem grimmigen Blick, gerät der Kamera ein rätselhafter Schlüssel ins Licht. Das kann doch nur Spaß sein, wenn der "laufende Meter" den Bruder anbettelt, er möge ihn mitnehmen zur Demo. Er will einen kalt machen, sagt er mit tödlich ernstem Blick und gerunzelten Brauen. Ein Nothammer, wahrscheinlich aus der U-Bahn geklaut, steckt in seiner Tasche, ein Werkzeug mit dem dickes Glas zerschlagen werden kann, warum nicht ein Kopf.
Der dicke Harry meint es nicht so. Längst zu alt, um wirklich mitzumischen, lebt er in der Erinnerung an damals, als sie die Läden geplündert haben, als sie Kreuzberg für fast fünf Stunden zur polizeifreien Zone erkämpften, als sie einmal alle alles einkaufen konnten ohne zu bezahlen, als sie den Traum einer Freiheit praktizierten, der das Geld überflüssig und die Verhältnisse einfach machen sollte. Und jedes Jahr legt er sich einen neuen Fettring von schlechtem, billigen Essen um die Hüften, und immer wieder baut er seine Barrikade, denn einmal, einmal da muss es doch auch für seinen Traum, den er doch für alle träumt, gut ausgehen.
Wie Billardkugeln lässt der Film seine Gestalten durch den Maitag laufen, manchmal berühren sie sich mit leichtem Klicken: Abgerissene und doch aufgetakelte Punks, abgetakelte, gescheiterte Intellektuelle, die fleißige Dealerin und die faulen jungen Türken von der Ecke. Alle machen sie die Karikatur des ordentlichen Deutschlands: Hereinspaziert, hier kann der Bürger sich ganz umsonst gruseln und vergeblich ist es auch noch. Manchmal springen die Kugeln über die Bande.
Am Abend des ersten Mai treffen wir sie im Krankenhaus wieder: Yavuz hat irgendwie den dicken Harry schwer verletzt. Einer von denen aus der Provinz ist mit einer Pillenvergiftung geborgen worden. Mit ihm seine Kamera, die ein mörderisches Geheimnis birgt. Uwe der Polizist sieht aus wie nach einer Massenschlägerei und doch hat ihn kein Schwarzer Block gestreift. Yavuz Bruder wäre aus völlig privaten Gründen beinahe zu Tode gekommen. Im Warteraum redet ein GRÜNEN-Politiker aus dem Fernsehapparat: "Das Konzept der De-Eskalation ist aufgegangen." Alles wie im wirklichen Leben.
Am Ausgang des Freilutfkinos Kreuzberg im dunklen Hof des Künstlerhauses Bethanien ein Flugblatt: "Solidarisch kämpfen lernen". Im Fernsehen die Nachrichten: Kauflaune steigt trotz Teuerung. Und: Arbeitslosigkeit sinkt weiter. Von Armut war nicht die Rede. Die Innenminister legen einen Bericht zur Jugendkriminalität vor. Sie werden härter dagegen vorgehen. Die wir da im Film gesehen haben, das sind nur die Blüten. Der Sumpf ist von ganz anderen angelegt. Der Film - gemacht von ausgezeichneten Regisseuren, präsentiert von eindringlichen Schauspielern, begleitet von mitreissender Musik - kommt ab sofort in manche Kinos.