Es war eine schöne Idee, das geeinte Europa. Als damals in den 50er Jahren, die EWG gegründet wurde, freuten sich Bürger der ersten sechs Staaten über weniger Kontrollen an den Grenzen und über eine Ahnung davon, dass mit der nachbarschaftlichen Nähe Feindschaften abgebaut werden könnten. Die West-Deutschen wurden dreizehn Jahre nach dem Krieg wieder Mitglied der Völkerfamilie, man schien ihnen vergeben zu haben. Die anderen Staaten hofften, das aggressive deutsche Potenzial - ausgewiesen in zwei Weltkriegen binnen weniger Jahrzehnte - fest eingebunden zu haben. Und tatsächlich erlebte Europa über sechzig Jahre lang keinen Krieg. Auch wenn diese lange Friedensperiode partiell der zweigeteilten Welt gestundet war, auch wenn die EU und ihre Vorläufer nicht nur ein Bündnis für Völkerfreundschaft, sondern auch eines gegen den Ostblock waren, hatte die Europäische Union einen Zweck erfüllt: Die Sicherung des Friedens.
Auch dinglich war die Gemeinschaft ein Erfolgsmodell, eine Globalisierung light: Die Pizza wurde zum Lieblingsessen aller Europäer, der 2-CV, die "Ente", nahm es an Lebensfreude jederzeit mit dem VW-Käfer auf, der wiederum lief und lief in vielen europäischen Ländern, die holländische Küste wurde Jahr für Jahr friedlich von den Deutschen besetzt und wenn Udo Jürgens vom griechischen Wein sang, dann wussten nicht wenige wie der schmeckte. Obwohl die "Gastarbeiter" nicht wirklich Gäste waren: In den wirtschaftlich erfolgreichen Ländern der europäischen Gemeinschaft internationalisierten sie die Gesellschaft. Und die Italiener, Spanier und Griechen, die in französischen, holländischen, belgischen und deutschen Fabriken arbeiteten, bekamen ein Bild von den Ländern mit denen sie in einem Boot saßen. Allerdings waren sie eher zum Rudern bestimmt, während die reicheren Länder den Kurs bestimmten.
Dass die europäische Einheit von Beginn an primär wirtschaftliche Ziele verfolgte, wirkte lange Zeit nicht störend. Lustlos beteiligten sich die Nationen an europäischen Wahlen, gern schoben ihre Parteien verdiente Altmitglieder nach Brüssel und Straßburg ab, und während an Sonntagen Europa-Reden gehalten wurden, wollten die Basken, die Korsen, die Süd-Tiroler, die Flamen und Wallonen und eine Reihe anderer Nationalitäten im Alltag lieber sie selbst sein. Vollends scheiterte eine multinationale Politik am Vielvölkerstaat Jugoslawien: Hier schürte die vorgeblich europäische Gemeinschaft den Zerfall des Staates und den Hass zwischen den Nationalitäten, zwischen Menschen, die gestern noch friedlich zusammengelebt hatten. Es gab geradezu einen Wettbewerb darum, wer welchen Flicken aus dem jugoslawischen Teppich für sich reklamieren konnte, und dass die Deutschen sich ausgerechnet den alten Nazipartner Kroatien als Ziehkind erkoren hatten, wirft ein fahles Licht auf die deutschen Europa-Schwüre.
Vor allem die zügellose Osterweiterung verwässerte die Europa-Idee statt sie zu stärken. Die Neuen aus dem Osten hofften auf Geld aus Brüssel und die Alten aus dem Westen hofften auf neue Märkte. Mal wieder war es das Geld, das die Eliten in den Ländern Europas bewegte: Was bekommen meine Bauern, fragten die Landwirtschaftsminister und die Polizeiminister sorgten sich um fälschungssicheres Geld, während die Staatsoberhäupter sich um gute Plätze auf den Gemeinschaftsfotos rangelten. Offenkundig mangelte es den Regierungen an Demokratieministern. Denn als 2004 eine europäische Verfassung auf dem Tisch lag und die Franzosen und Holländer sie in Referenden ablehnten, wollte man die anderen Völker schon gar nicht mehr abstimmen lassen. Sie hielten sich für schlau, die europäischen Eliten, und machten einen schlechten Verfassungsentwurf noch ein wenig schlechter, um ihn dann als "Vertrag von Lissabon" nur von den Regierungen ratifizieren zu lassen. Wer die europäische Wirklichkeit kennt, der weiß, ein Telefonat zwischen den französischen und deutschen Staatsoberhäuptern hätte es auch getan. Das Volk? Das Volk stört nur, wenn die Staatenlenker die Staaten lenken.
Der stolze deutsche Aufschwung verdankt sich einer brutalen Armutspolitik, die Ungarn schaffen die Pressefreiheit ab, in Italien regiert ein Mussolini-Fan, die Flamen und Wallonen hassen sich fast so, wie Sarkozy die Zigeuner, die britische Polizei ist so korrupt wie die tschechischen Politiker. Nur im Abbau des Rechtsstaates, unter der Flagge des Kampfes gegen den Terror, gibt es übergreifende europäische Gemeinsamkeiten. Jetzt also der europäische Gipfel zur Bewältigung der Finanzkrise. Jedermann weiß, dass mal wieder die Rettung der Banken ansteht: Sofort kletterten an allen wichtigen Börsen die Kurse. Der Eurokurs stieg bis zu 1,44 Dollar. Nicht die Demokratisierung des europäischen Gebildes, nicht die soziale Angleichung der Länder, nicht die Annäherung der Völker stand auf der Agenda des Gipfels. Schon vorher hatten die Deutschen in Umfragen den Eliten ihre Meinung mitgeteilt: Drei Viertel von ihnen, nach einer Umfrage des "Stern", beklagt, dass die Bevölkerung kaum Einfluss auf die Entscheidungen in der EU habe. Und im ZDF-Politbaromter benoten 53 Prozent der Bürger das Krisenmanagement der EU als "eher schlecht". Die Eliten sind damit beschäftigt, um das Vertrauen der Finanzmärkte zu ringen, das Vertrauen der Bürger interessiert sie Null. Europa muss gerettet werden. Vor seinen Eliten.