»Das Verbot der Vielehe ist eine Erfindung aus der totalitären Vergangenheit«, sagt der Justizminister der Republik Kirgisistan. Und deshalb wird in Kirgisien bald wieder die Polygamie eingeführt werden. Nicht nur die »Sitten und Gebräuche« der Krigisen sollen damit wiederbelebt werden, auch die vielen Frauen, die dank der Auswanderung rund eine Million Männer des fünf Millionen-Volkes sind in den letzten Jahren auf der Suche nach Arbeit ausgewandert keine Männer finden, werden endlich eine Chance finden. Die Bürgerrechtlerin Tscholpon Dschakupowa kennt »viele bekannte Persönlichkeiten aus der Politik und der Buisiness-Elite« die zu den Befürwortern der Vielweiberei gehören.
Mit dem Ende der Sowjetunion, das ist allgemein bekannt, brach, zumindest in den ehemaligen Sowjetrepubliken, der Fortschritt aus und bisher hat ihn noch keiner wieder einfangen können. Doch lastet die totalitäre Vergangenheit immer noch stark auf den Völkern der früheren Sowjetunion. Zur Zarenzeit war zum Beispiel die Leibeigenschaft ein allgemein geschätzter Brauch und doch ist sie bis heute nicht wieder eingeführt worden. Dabei war der Muschik, der leibeigene Bauer, gut versorgt: Der Herr nahm ihm die schwierigen Entscheidungen ab und auch einen guten Teil der Ernte. So lebte der Leibeigene, hierin dem Sklaven in der frühen USA ähnlich, geradezu geborgen in einer Symbiose mit dem jeweiligen Gutsherren.
Auch wenn dieses familiäre, traditionelle Verhältnis zwischen Herr und Knecht bei den Leibeigenen manchmal zu einer gewissen Antriebsarmut führte, gab es in den Gebräuchen ein bewährtes Treibmittel, um das Arbeitstempo den wirtschaftlichen Bedürfnissen anzupassen: Man gebrauchte die Peitsche. Auch die Prügelstrafe ist im Zuge des Totalitarismus total abgeschafft worden. Das hat im Sowjetsystem zum sattsam bekannten Schlendrian in der Produktion geführt. Im befreiten Kirgisistan sind zwar die Auspeitschungen nicht wieder eingeführt worden, aber dafür leben offiziell 34 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle, sagt das deutsche Auswärtige Amt und wenn das Amt schon das Wort »offiziell« benutzt, dann darf man von ganz viel mehr Armut ausgehen. Auch die Armut ist natürlich eine gewisses Treibmittel. Im kirgisischen Fall treibt sie offenkundig eine Million Menschen außer Landes.
Früher mussten die Kirgisen in sowjetischen Kolchosen jede Menge Vieh halten. Natürlich sind diese widernatürlichen Genossenschaften aufgelöst worden. Damit fiel zwar ein wirtschaftlich interessantes Exportgut weg, aber dafür waren die Kirgisen frei. »Aufgrund der kleinen Betriebsgrößen« schreibt das Auswärtige Amt, »und deren geringer Kapitalausstattung sind die Investitionen in der Landwirtschaft gering.« Dass es neuerdings »zaghafte Versuche« gibt, neue Genossenschaften zu bilden, kann nur als Rückfall in den Totalitarismus verstanden werden. Dem steht entgegen, dass es in Kirgisien eine stabile »Präsidialdemokratie« gibt: Der Präsident kann jederzeit das Parlament auflösen, er bestimmt den jeweiligen Regierungschef, die Minister und die Richter. Auch wenn die OSZE-Beobachter in den letzten Wahlen keine »demokratischen Standards« feststellen wollten, garantieren doch die Weltbank und die Welthandelsorganisation ein liberales Wirtschaftklima: Die nationalen Goldvorkommen werden zumeist von ausländischen Gesellschaften ausgebeutet.
Die erwähnte Bürgerrechtlerin berichtet, »Frauen haben es schwer eine Arbeit mit anständigem Einkommen zu finden. Einige von ihnen bevorzugen es daher, die zweite oder dritte Frau eines erfolgreichen Geschäftsmannes oder Politikers zu werden, die in der Lage sind, ihre Auserwählte und deren Kinder finanziell zu unterhalten.« Fraglos waren die afghanischen Taliban mit der kompromisslosen Anwendung der Scharia bei der Rückkehr zu den alten Sitten und Gebräuchen weiter als die Kirgisen. Aber es besteht Hoffnung: Nach dem freien Zerfall der Sowjetunion und deren totalitärem Atheismus bekennen sich heute 80 Prozent der Kirgisen zur sunnitischen Variante des Islams. Vielleicht »bevorzugen« die Frauen in Kirgisistan auf Dauer auch die kleidsamen Ganzköperkondome der Afghanen, die ja fraglos eine demonstrative Absage an den Totalitarismus darstellen.