Unserer Autorin Carla Bender ist es gelungen, das Reisetagebuch der Kanzlerin zu erhalten. Auf das Wesentliche gekürzt können wir es heute exklusiv veröffentlichen.

»Liebes Tagebuch,
rund dreihundert Werktage hat das Jahr. Stell Dir vor, ich müsste die ganze Zeit in Berlin bleiben! Vor der Tür des Kanzleramtes: Klick, klick, klick, immer wieder Touristen. Vor meiner Wohnung am Kupfergraben in Berlin, gegenüber der Museumsinsel: Nur Touristen und nicht mal wegen mir, alle nur wegen altem Zeugs. Nicht auszuhalten. Alle paar Tage Koalitionsauschuss, die einen wollen das, die anderen dies. Und immer wieder die Fragen: Was tun Sie gegen Arbeitslosigkeit? Was ist mit Hartz IV? Warum verdienen wenige so viel und so viele so wenig? Ja, bin ich denn für alles verantwortlich, kann sich nicht jemand anders um dieses Deutschland kümmern? Ich muss hier raus!


Endlich ein paar Tage in Davos, im Januar ist es hier sehr schön. Und die Herren in den dunklen Anzügen vom World Economic Forum hören auch ganz brav zu. Meine Botschaft »Alle können von der Globalisierung profitieren« wurde verstanden. Von Profit haben diese Spitzenmanager wirklich Ahnung. Warum allerdings die Schweizer Armee 1.500 Soldaten nach Davos beordern musste, habe ich anfangs nicht begriffen. Aber der kommandierende General hat mich aufgeklärt: Es gäbe immer wieder solche Randalierer bei diesen friedlichen Veranstaltungen des Forums und außerdem sei es »eine gute Turnübung gewesen, um komplexe Raumsicherung zu üben.« Na klar, so ein kleines Land, die haben natürlich Komplexe. Warum und in welchem Raum die nun gesichert werden mussten, habe ich nicht gefragt, man will ja nicht unhöflich sein. In Deutschland ist auch so ein Randalierer aufgetaucht, ein gewisser Kurnaz, der soll vom Bundesnachrichtendienst verhört worden sein. Na, und? Wenn er doch Türke ist oder so was.

Liebes Tagebuch, nach ein paar Zwischenstops in Kairo, Riad und Cannes endlich wieder Brüssel, da gibt es tolle Pralinen. Vielleicht sollte ich meine Hosenanzüge doch aus Stretch machen lassen. Egal. Erst organisiere ich mal eine historische Einigung beim Klimaschutz, jedenfalls steht das so in meiner Verlautbarung und später auch in den Zeitungen: Die Treibhausgas-Emissionen sollen demnächst um 20 Prozent gekürzt werden. Das Nähere regelt irgendjemand später. Aber wie bringe ich das der Deutschen Automobilindustrie bei? - Erstmal rechnen wir in der Regierung was schönes aus: Wer länger arbeitet, sichert Arbeitsplätze, die Rente mit 67 wird deshalb durchgesetzt! - Wir sind ein Exportland: Jetzt haben wir sogar den Oscar bekommen, für diesen anderen Film, von dem Herrn Donnersmarck. Mich hat die Stasi ja auch beobachtet, ob ich meine Arbeit als FDJ-Sekretärin auch richtig mache. Na, denen habe ich es gegeben, bei mir gab es nichts zu kritisieren!

Oettinger, ich höre immer Oettinger, nur weil der einem alten Mann eine nette Grabrede gehalten hat, diesem Herrn Filbinger. Die Deutschen können auch nur meckern. Es wird Zeit, dass ich mal wieder ins Ausland komme, da wird nicht gemeckert, da freuen sich immer alle wenn ich da bin. Zum Beispiel jetzt, Ende April in Washington. Da bin ich als EU-Ratspräsidentin aufgetreten und habe wieder Erfolge erzielt: Mein Freund Bush hat allem zugestimmt, dem Klimaschutz und der besseren wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Diesmal gab es zu Hause in den Medien Stimmen, die empfanden das als Aprilscherz. Aber solche Scherze macht man doch nur Anfang April, oder ist das im Westen anders?

Im Mai in Zagreb: Ich bin immer noch EU-Ratspräsidentin und die Kroaten wollen bei uns Mitglied werden, warum nicht, sind ja keine Türken. Ständig machen sie hier Fotos, aber nicht so wie in Berlin, wo ich gar nicht drauf bin, sondern immer nur die Gebäude. Und alle sind nett zu mir. Zwischendurch reden wir über den Kosovo - da haben wir ein paar tausend Soldaten, die wollen ja auch mal reisen - der soll jetzt selbstständig werden. Irgendein Journalist aus Deutschland fragt mich, wann denn die Sorben selbstständig werden sollen. Was hat das denn mit dem Kosovo zu tun? Die von zu Hause bringen nur Ärger mit: Bei der Telekom streiken sie. Nur wegen 50.000 Arbeitsplätzen, die ausgelagert worden sind, ja sind die denn gedopt? Überall wird doch was ausgelagert, als Physikerin kenne ich sogar Zwischenlager, schließlich habe ich auf Atom studiert.

Heiligendamm ist zwar in Deutschland, aber auch irgendwie Ausland: Außer dem Personal kommt mir kein Deutscher in die Quere, alles schön abgesperrt und ruhig, so lässt es sich aushalten. Und was mache ich? Natürlich wieder einen Erfolg, wie schon jüngst in Washington erkläre ich meinem Freund George W. wie das mit dem Klima ist, zum Beispiel, dass wenn es wärmer wird auch mehr Wasser da ist und Bush nickt, also ist er einverstanden! Im Juli habe ich nur zwei Reisen, sehr schlechte Planung meines Büros! Und außerdem streiken irgendwelche Lok-Führer. Na, ja, ich fahre ja nicht mit der Bahn. Fliegen ist auch für das Klima viel besser: Man ist nur kurz unterwegs, kann also kaum Schaden anrichten. Demnächst besuche ich einen Eisberg, da kann dann dieser Umweltminister mit seinem Eisbär sehen wo er bleibt!

Ilulissat: Wenn ich das meinem Joachim erzähle, der weiß wahrscheinlich gar nicht wo das liegt. In Grönland nämlich. Und da haben sie einen Fjord, der ist voller Eisberge und die schmelzen so vor sich hin, das sind meine Zeugen, wenn ich demnächst George treffe, kann ich ihm meine Fotos zeigen. Und Wale haben die da auch, als die mich sahen, machten die einen Buckel, niedlich, wie die Katzen, deshalb nennt man die auch Buckelwale. Hier ist alles voller Natur, nicht so wie zu Hause. Da sollen gerade ein paar Inder durch die Straßen gejagt worden sein. Komisch, haben die denn jetzt nicht Schonzeit? Demnächst fahre ich mal nach Indien, das kläre ich dann auf. Vorher rede ich noch mal mit den Engländern. Mit denen kann man sich am besten über Afghanistan unterhalten, die haben da Truppen, wir haben da auch ein paar tausend Soldaten, also den Medien sage ich schon mal, dass wir da eine gemeinsame Verantwortung haben, das hört sich immer gut an, besser als wenn man anfängt die Toten zu zählen.
Wir sind wieder Weltmeister: Meine Fußballfrauen haben die Weltmeisterschaft gewonnen. Das soll uns mal einer nachmachen. Und wo haben sie die gewonnen? Im Ausland. So ist es auch mit mir, im Ausland wissen sie, was sie von mir zu halten haben. Ich bin in New York zur Staatsfrau des Jahres gewählt worden! Na gut, Schröder, Genscher und von Weiszäcker haben den Titel von diesem Komitee für ein besseres Gewissen auch schon bekommen, aber ich bin die erste deutsche Frau, sowieso, schon vom Amt her. Und deshalb habe ich dann der Generalversammlung der Vereinten Nationen auch gesagt: Wir sind bereit für mehr Verantwortung. Und etwas Philosophisches habe ich nachgeschoben: »Für sich genommen ist jedes Land zu klein – zusammen gelingt uns vieles«. Warum wir nicht sofort einen Sitz im Sicherheitsrat bekommen haben, ist mir unverständlich.

Oktober: Sieben Orte in einem Monat! So schnell wie ich ist keiner. Erst war ich in Äthiopien, da haben wir auch Soldaten, dann eine Reise quer durch Südafrika, später ab nach Indien, da haben wir noch keine Soldaten. Und was machen die Türken, während ich weg bin? Die marschieren doch glatt in den Irak ein. Schön, im Kampf gegen den Terror muss man schon mal ein Auge zudrücken. Aber in den Irak, wo wir gar keine Soldaten haben! Obwohl, an mir hat es nicht gelegen. Jedenfalls ist der Türke nicht reif für die EU. Zumindest ich hätte vorher mal gefragt werden können. Bevor ich in die USA fahre, klären wir im Bundestag schnell unsere weitere Präsenz in Afghanistan: Wir sind gekommen um zu bleiben! Andernfalls könnte ich George auf seiner Ranch in Texas nicht unter die Augen treten und den schönen Satz sagen, den ich jeden Tag übe und der dann später zitiert werden wird: »Schon der erste Blick zeigt, dass hier eine wunderbare Atmosphäre ist.« Von der Atmosphäre bin ich dann ganz geschickt auf das Klima gekommen und habe den Präsidenten zum dritten mal in diesem Jahr überzeugt: Es gibt ein Klima, das hat er schon mal zugegeben.

So ein Jahr geht schnell rum. Noch mal eben nach Paris (»Die Mittelmeerregion ist unser aller Aufgabe«) dann nach Lissabon (EU und Afrika vereinbaren neue Partnerschaft) und schon ist Advent und die Familien unserer tapferen Auslands-Soldaten kommen mich im Kanzleramt besuchen. Bei denen bedankte ich mich erst mal für »ihre Solidarität«. Später habe ich dann nachgelesen, dass ich auch den Satz »Trennung ist Trennung« gesagt habe. Das ist doch mal was Fundamentales: Zur Trennung als solcher hat vor mir niemand Ähnliches gesagt. Und stimmen tut es auch. Liebes Tagebuch, jetzt ist erst mal Schluss. Soviel Erfolge, da muss man schon mal Pause machen dürfen. Was steht im Januar auf der Tagesordnung? Hauptsache, es ist weit weg."