Götzendämmerung an der Börse, der Krieg in Libyen ist nur gewonnen, um den Folgekrieg einzuläuten, die US-Supermacht zerbröselt und der Israel-Palästina-Konflikt geht in die nächste Runde, die nächste Runde, die nächste Runde. Jetzt, wo alles zusammenkommt was immer schon zusammengehörte, regt sich in den Logen bürgerlicher Betrachtungsweisen der Verstand. Angestossen vom ultrakonservativen britischen Kolumnisten Charles Moore, beginnt der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher ". . . zu glauben, dass die Linke recht hat." Um es zu übersetzen: Schirrmmacher fällt von jenem Glauben ab, der den Kapitalismus, das einzig verbliebene Gesellschaftssystem, trotz dieser oder jener Irrung, auf dem guten Weg der Weltrettung sah. Noch im letzten Jahr gab er ein Buch zur "Zukunft des Kapitalismus" heraus, das dem System bereits im Titel eine Perspektive bescheinigte, und in dem er im Wesentlichen die Gesundbeter des Marktes versammelte, obwohl sich der längst als unheilbarer Menschenfresser herausgestellt hatte. Jetzt also: "Es geht darum, dass die Praxis dieser Politik wie in einem Echtzeitexperiment belegt, dass die gegenwärtige 'bürgerliche' Politik falsch ist, sondern, viel erstaunlicher, dass die Annahme ihrer größten Gegner richtig ist."

Soviel Einsicht kann nicht unwidersprochen bleiben. Also regt sich der Spiegeljournalist Jan Fleischhauer - der als Sohn einer sozialdemokratischen Mutter seine schwere, irgendwie links dominierte Kindheit in einem ganzen Buch abarbeiten musste - und schreibt dem Schirrmacher ins Gewissen: "Dass der Kapitalismus auch ein paar sehr hässliche Seiten hat, ist ja keine ganz neue Erkenntnis." Aber der FAZ-Herausgeber möge doch bedenken, dass dieses System doch immerhin eine Maschine zur "Wohlstandsproduktion" sei. Wenn Fleischhauer nicht so elend kokett wäre, könnte man ihn erinnern: Kapitalismus ist überall. In Somalia wie in Luxemburg. Am Central Park und in der Bronx. Oder, weil Fleischhauer in Berlin lebt, in Zehlendorf und in Neukölln. Kapitalismus ist in den vergangenen Jahrhunderten im Wesentlichen eine Maschine zur Kriegsproduktion gewesen, ein Apparat zur Aneignung fremden Eigentums, sei es des Sparbuchs von Oma Else durch die Lehmann-Brüder oder ganzer Kontinente durch die englische Armee und halber durch die deutsche Reichswehr. Da kann sich Fleischhauer natürlich nicht mit einem "Zerknirschungsschub" aufhalten, da muss er hastig kleine Worte schreiben, um auf der Seite der Gewinner zu bleiben.

Wer sich jetzt Sorgen um Frank Schirrmacher machen sollte, dass der sich doch weit aus dem FAZ-Fenster lehnt, wenn er mit Charles Moore feststellt, dass die sozialen Räume des Kapitalismus zur Zwergenkleine geschrumpft sind, der sei beruhigt: Der "Spiegel" widerspricht der "FAZ", so ein Streit unter Brüdern stärkt die Auflage, also auch Schirrmachers Job. Und weil auch der weiß, wo die Grenzen dessen liegen, was der Bürger öffentlich sagen darf ohne seine bürgerliche Sittsamkeit zu verlieren, entlässt er flugs einen solchen Satz ins Freie der Debatte: "Dass Gesundheit in einer alternden Gesellschaft nicht mehr das letzte Gut sein kann, weil sie nicht mehr finanzierbar ist . . ." Nun lässt er das anonyme Schicksal dräuen, als gäbe es keine Gesundheitsindustrie, die über die Finanzierbarkeit der Massengesundheit entscheidet, keine Regierung, die lieber Banken rettet als Menschen, als wäre eine gesellschaftliche Lage nichts anderes als das Wetter, das man hinzunehmen hat. Und wo Frank ein Problem ins Nichts objektiviert, da subjektiviert sich Jan die komplette Hose voll: "Dass die Leidenschaft Einzelner das ganze System an den Rand des Zusammenbruchs führen können" schreibt er und meint damit die obligate "Gier und Habsucht", als wäre das System nicht völlig leidenschafts- und gefühllos immer schon am Profit interessiert gewesen und an sonst nichts.

Immerhin, Schirrmacher hat die Augen halb geöffnet, wenn er die "Lehrer und Hochschullehrer und Studenten, Polizisten, Ärzte Krankenschwestern, gesellschaftliche Gruppen, die in ihrem Leben nicht auf Reichtum spekulierten", in Augenschein nimmt und barmt, dass denen die "eindeutigen Standards" abhanden gekommen sind, "Standards von Zuverlässigkeit, Loyalität, Kontrolle." Fleischhauers Augen dagegen sind streng auf seinen eigenen Nabel gerichtet: "Am Beginn dieser Krise steht eine Politik des billigen Geldes" ein "aus den Regierungszentralen orchestriertes Leben auf Pump." Da hat er ihn den Schuldigen, den verhassten Staat, den die Linken angeblich als Krisenlöser vergötzen. Lügt er nur frech ins Publikum, oder weiß er wirklich nicht wer dieser Pump-Staat ist: Eine vom Lobbyismus zerfressene Begünstigungsmaschine für die Reichen, ein Selbstbedienungsladen für die Ackermänner, ein Diener für eine Handvoll Herren. Ja, wenn die Linken diesen Staat meinen würden, dann hätten sie keinesfalls recht. Diese jämmerlichen Stäätchen der Obamas, der Sarkozys, der Steinbrücks und Geithners, die sich morgens von den Banken die Eier schaukeln lassen, um sich abends in ein von der Rüstungsindustrie gemachtes Bett zu legen. Diesen Staat meint die Linke nicht. Deshalb hat sie Recht. Aber vorläufig, da dürfen Jan & Frank beruhigt sein, bekommt sie es nicht.