Nach mehrjährigen Recherchen und komplizierten Verhandlungen gelang es unserem Team, Kopien zweifelsfrei authentischer Originaldokumente anzukaufen, die das Wirken einer einflussreichen Untergrundbewegung in unseren Breiten belegen. Obwohl die geografische und zeitliche Zuordnung der Dokumente nicht zweifelsfrei möglich ist, handelt es sich doch um eine der bedeutsamsten politisch-historischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte. Nachfolgend ein zweiseitiges Schreiben.

"Gemäß Präsidiumsvorgabe 89/10/29 möchte ich heute über einen Schlüsselbereich der operativen politisch-ideologischen Arbeit seit der Erstürmung des Zentralstabsgebäudes durch die Vorausabteilungen des Besatzerfernsehens informieren. Vom Sektor Verbindungswesen wurde zugesichert, dass diese Einschätzung Sie trotz der beträchtlichen Entfernung binnen weniger Tage erreichen soll.

Wie seinerzeit durch führende Ratsmitglieder angeregt, wurden als Antwort auf die offenkundigen Tendenzen im Großen Land frühzeitig Vorsorge für eine denkbare Übereignung des Landes getroffen. Eine größere Zahl aussichtsreicher Perspektivkader nahmen an mehrmonatigen, intensiven Schulungen im Objekt »Kohlfeld« und in Seminareinrichtungen befreundeter Gemeinden teil. Im Ergebnis wählten wir eine dreistellige Gruppe besonders befähigter junger Patriotinnen und Patrioten aus, die in wohl vorbereiteten biografischen Zusammenhängen ihre Wartestellungen einnahmen.

Nachdem Richard S. aus M. Details der geplanten Behandlung unserer Strukturen übermittelt hatte, handelten wir schnell, konzentriert und strikt nach Leitlinie. Die ersten Kader gingen unter Wahrung absoluter Tarnung sofort sehr erfolgreich an den Start, das Gros wartete - einige Wenige seit nun mehr als einem Dutzend Jahren - den geeigneten Aktivierungszeitpunkt ab. Etwa 72,4 Prozent unserer Hoffnungsträger gelang es bisher, einflussreiche Positionen im System zu besetzen und getreu unseren tief verinnerlichten Werten ihr verantwortungsvolles Wirken zu entfalten. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle den Freund Wolfram Barth (»Zottel«) und die Freundin Luzifera Frosch (»Engelchen«). In beispielhafter Weise nutzen sie mit unterschiedlichen Strategien jede Möglichkeit, im Establishment der Gegenseite voranzukommen.

Zottel diente sich, wie mit seinem Instruktor abgestimmt, in der Rolle des unverdächtig-opositionellen Sandalenträgers aus der Musikwissenschafts-Szene mit hohem intellektuellem Niveau seinen potenziellen Förderern aus dem damals formal oppositionellen Lager an und war sofort erfolgreich. Er gehört heute zu den herausragenden Protagonisten des Systems Rosa, reist viel und hält häufig anspruchsvolle Reden vor einflussreichen Gremien. Seine praktischen Einflussmöglichkeiten sind zwar deutlich begrenzt, auch wird er in Teilen der Öffentlichkeit belächelt, genießt jedoch bei weniger informierten Gruppen gewisse Achtung. Nach einer mehrjährigen Phase kritischer Wertungen unseres Systems ist Zottel mittlerweile dazu übergegangen, bei weniger bedeutsamen Anlässen vereinzelt nachdenklich-kritische Töne in seine Ausführungen einzuflechten. Die erhofft massiv erodierende Wirkung war bislang zwar nicht zu verzeichnen, seine Rückkehr in das Kollektiv des Musikministeriums nach der angestrebten Wende scheint damit jedoch glaubhaft zu ermöglichen.

Von weitaus höherem operativen Gewicht ist die engagierte Arbeit von Engelchen. Trotz einiger in der Person ihres Instruktors begründeter Startschwierigkeiten – er gehörte zu den bislang wenigen Totalausfällen – fasste sie schnell auf dem ihr nur von wenigen, teilweise schon in sehr früher Phase erfolgten, Unterweisungsaufenthalten bekannten Terrain Fuß. Der planmäßig-zügige Wechsel von einer politisch aussichtslosen Startgruppierung in den damals herrschenden Zirkel sicherte ihr in Verbindung mit der schon im Auswahlverfahren aufgefallenen vermeintlichen Arglosigkeit beste Ausgangsbedingungen für eine beispiellose Karriere. Die F. verstand es, bereits in der Frühphase eine ganze Reihe vormals führender Reaktionäre ihrer Gruppierung politisch auszuschalten, nachdem sie sich zuvor sorgfältig deren Vertrauens versichert hatte. Nur widrige Umstände verhinderten, dass sie ihren Hauptförderer, einen gewichtigen Gegner unserer Ziele, tatsächlich hinter Schloss und Riegel bringen konnte. Kritisch anzumerken ist, dass die KR-Planer trotz umfangreicher Analysen im Vorfeld offensichtlich Geltungskraft und Durchsetzbarkeit von Recht unter den hiesigen Bedingungen falsch eingeschätzt hatten.

Diese Faktoren waren jedoch von Engelchen noch nicht beeinflussbar. Sie ging vielmehr äußerst umsichtig zu Werke. So blieb ihr effizientes Wirken trotz der verheerenden Auswirkungen auf das politische Fundament unbemerkt bzw. wurde ihr gar positiv angerechnet. Sicher trug dazu bei, dass ihre Anstrengungen zeitlich mit einer überraschend wachsenden Sehnsucht nach Anstand und Hygiene in der Öffentlichkeit zusammenfielen.

Bei einer bedeutenden politischen Richtungsentscheidung vor wenigen Jahren vermochte Luzifera - sie trat als Repräsentantin ihres zu diesem Zeitpunkt weniger einflussreichen politischen Lagers für die bedingungslose Unterstützung eines ausländischen Schurkenregimes auf – gar den Mantel der Geschichte wehen zu lassen: im Ergebnis ihrer gezielten Provokation gelang es der zu diesem Zeitpunkt dominierenden, jedoch bereits abgewirtschafteten Ansammlung von Amateurstrategen, sich nochmals im Sattel zu halten. Gemäß unseren Erwartungen setzten sie in der Folge die Zerrüttung des eigenen Gemeinwesens fort und verspielten ihren letzten Kredit. Es ist auch der Verdienst unserer Aktivistin, wenn heute dieser generische Flügel als auf mittlere Frist bedeutungslos betrachtet werden kann.

Luzifera F. wird mit etwas Glück die Position der obersten Entscheidungsträgerin des gesamten Gemeinwesens erlangen. Engelchen plant, im Falle ihrer Salbung folgende Schritte:

- Einberufung aller arbeitslosen männlichen Bürger zwischen 18 und 68 Jahren zum Sanitärdienst in einem nahwestlichen Krisengebiet mit hohem Explosivpotenzial;
- Senkung der Abgabenlast für Unternehmen, die keine über 30jährigen Mitarbeiter beschäftigen, auf Null Prozent;
- Komplettstreichung aller Unterstützungs- und Beihilfezahlungen für Familien mit Kindern und Alte sowie, besonders aussichtsreich, die
- Ernennung eines übel beleumdeten religiösen Fundamentalistenführers aus dem Südbereich zu ihrem Stellvertreter.

Es ist davon auszugehen, dass mit dieser Strategie auch der zweite gegnerische Hauptflügel schon bald in historischer Bedeutungslosigkeit versinken wird. Im gegnerischen Lager ist dies gemäß verlässlicher Recherchen bislang nicht im Ansatz erkannt: dort wird vielmehr der vermeintlich nahe Sieg gefeiert, ein Informant nannte die Verhältnisse im inneren Zirkel der künftigen Macht »titanicartig«. Nun, der Eisberg naht.

Besonders anzurechnen ist Engelchen die bedingungslose Hingabe zu ihrer Aufgabe unter Inkaufnahme vielfältiger persönlicher Nachteile. Unverändert hält sie eine persönliche Phantombeziehung aufrecht, nimmt seit Jahren klaglos vielfältige Formen von Ablehnung und Hohn sogar aus ihrer Herkunftsregion in Kauf, selbst ein tiefgreifendes Zerwürfnis mit dem unserer Sache treu ergebenen, aus Sicherheitsgründen jedoch nicht eingeweihten, persönlichen Umfeld akzeptierte sie ohne Einschränkung. All dies blieb natürlich nicht ohne Wirkung – Engelchen ist heute von den schier übermenschlichen Anstrengungen körperlich deutlich gezeichnet. Wir empfehlen deshalb nach Beendigung ihres Einsatz einen mehrmonatigen Kuraufenthalt mit psychologischer Betreuung. Zudem schlägt unser Kollektiv Luzifera Frosch einstimmig zur Auszeichnung mit dem großen Banner der Freunde in Gold vor.

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