Anfang der 50er Jahre, ein Arbeitervorort von Düsseldorf: Ich war ein magerer kleiner Junge, der Jüngste in der Klasse. Und ich war, lange bevor der Begriff zum deutschen Schulsprachgebrauch wurde, ein "Opfer". Regelmäßig wurde ich, sobald der Aufsicht führenden Lehrer nicht hinsah, gerempelt, geschlagen, angespuckt. Nach der Schule bin ich als erster nach draußen. Ich lernte, sehr schnell zu laufen, manchmal haben sie mich trotzdem erwischt.
Ein Verfall gesellschaftlicher Autorität war nicht zu bemerken. An der Spitze des Staates stand der mächtige Konrad Adenauer, an der Spitze der Familie der Vater, der Lehrer benutzte den Rohrstock. Wer die geöffnete Hand zurück zog, bekam die doppelte Menge. Polizisten wurden mit "Guten Tag, Herr Schutzmann" gegrüßt. Der Pfarrer hat mir einmal eine runtergehauen, weil ich ihn auf das Ende der Religionsstunde aufmerksam gemacht hatte.
»Opfer« wie ich kauften sich ein Messer, andere einen Schlagring. Meine erste Gaspistole besaß ich mit zehn. Allerdings rüsteten die Täter auch auf. Ein beliebtes und auch den Eltern bekanntes Spiel hatte mit Messern zu tun: Die Schneide musste im Boden stecken bleiben und wo sie stak, durfte man sich eine Scheibe aus einem gedachten Land abschneiden. Ich hatte zu viel Angst mein Messer zu benutzen. Andere nicht.
Die noch junge Bundesrepublik lebte 1950 mit zehn Prozent Arbeitslosen. Es gab den Begriff der Wohnungsnot. Im Nachbarhaus wohnte eine ziemlich katholische Familie, mit sechs Kindern Bei uns gab es nur zwei, die Größe der Wohnung war die selbe. Es waren sehr kleine Wohnungen. Wir Kinder spielten in den Ruinen hinter dem Haus. Manche Väter kamen regelmäßig am Freitag betrunken nach Hause. Freitag gab es Lohn.
Wer aus meiner Volksschulklasse etwas geworden war, der bekam einen Arbeitsplatz im Walzwerk, dort, wo der Stahl noch glühte. Andere gingen in die Maurerlehre. Nur der Bäckerssohn wurde selbstständig, der übernahm den Laden seines Vaters. Zwei Jungen aus meiner Klasse, die Fliesenleger geworden waren, habe ich zufällig getroffen, als sie um die Fünfzig waren: Kaputte Gelenke, kein Gedanke an Arbeit.
Rund acht Millionen Flüchtlinge kamen in den 50ern nach Westdeutschland. Wir fanden nicht, dass die Deutsch konnten. Wir nannten sie, gleich ob sie aus Ostpreußen oder aus dem Sudetenland kamen, "Wasserpolacken". In unserem Viertel wurden sie in einem Block untergebracht, der hieß Klein-Korea. Da wagte sich keiner rein. Einmal kam eine Gruppe von denen bei uns vorbei. Wir sangen "Rot-Blau-Polacks-Frau". Die warfen mit Steinen. Noch heute habe ich davon eine Narbe in der linken Augenbraue.
Heute gibt es in Deutschland 12 Prozent Arbeitslose, die Ausländer zählen bei sieben Millionen. Junge Türken und Araber wissen sehr schnell, dass sie keine Arbeit bekommen werden. Für das Leben lernen viele in den Schulen deshalb nichts. Ihr Leben wird nicht aus deutschen Gedichten bestehen sonder aus dem Gang aufs Sozialamt. Wer sich etwas leisten will, wird Dealer. Das Leben in Berlin-Neukölln ist ohne den Schutz der Gruppe noch gefährlicher. Man bleibt was man ist: Türke, Kroate, Russe oder Deutscher. Mancher ist auch noch stolz darauf.