Manchmal gibt es diese Momente romantischer Besinnung: Man schaut sich um in Europa und findet - gemessen an vielen anderen Staaten und deren Chefs - dass Angela Merkel doch ganz gut und die Bundesrepublik nicht das schlechteste der Länder ist. Natürlich hat auch Weihnachten damit zu tun: Die Zeit des Friedens und der Eierkuchen. Aber manchmal liegt es auch an den europäischen Nachrichten. Ungarn, zum Beispiel, schafft gerade die Pressefreiheit ab. Ein neues Mediengesetz sieht die Einrichtung eines sogenannten Medienrats vor, der ausschließlich aus Mitgliedern der Regierungspartei besteht. Rundfunkbetriebe, Zeitungen und Zeitschriften, deren Berichte als "nicht politisch ausgewogen" erachtet werden, haben mit hohen Geldbußen zu rechnen. Das kann bis zur Existenzvernichtung gehen.

Ungarn ist ein treffliches Beispiel für jene postkommunistischen Staaten, die schnell in NATO und EU aufgenommen wurden und dann alles unterschrieben haben: Die europäische Menschenrechtskonvention, das im Lissabon-Vetrag verankerte Bekenntnis zur Demokratie und all die anderen schönen Paragraphen, deren Einhaltung offenkundig keiner kontrolliert. Ungarns offener Antisemitismus? Geschenkt! Die schweren Anfälle von Homophobie in Polen und deren Verbreitung durch die katholische Nebenregierung des Landes? Kann ja mal vorkommen! Dass der rumänische Staatspräsident, Traian Băsescu, in einem Ermittlungsbericht des Europarats zu illegalen Aktivitäten des US-Geheimdienstes CIA in Europa, namentlich als eine der Personen genannt wird, die geheime Foltergefängnisse zu verantworten haben? Nur nicht aufregen! Der selbe Mann hat auch eine kritische Journalistin als "stinkende Zigeunerin" beschimpft.

Schon sind wir thematisch bei einer der Säulen der EU, der großen Nation Frankreich. Deren kleiner König Sarkozy hatte im August dieses Jahres mal eben ein paar tausend Zigeuner abgeschoben. Bürger der selben EU, die in ihren feierlichen Papieren die Freizügigkeit innerhalb der europäischen Grenzen vorsieht. Da hat sich aber die EU-Kommissarin für Justiz und Inneres, Viviane Reding, aufgeregt: Sie erinnere das Vorgehen des französischen Staates an die Zeit des Nationalsozialismus. Die Folgen? Keine! Die Sanktionen? Null! Warum auch, hatte sich der König von Frankreich doch nur am Imperator Italiens ausgerichtet, der vor zwei Jahren den "Nationalen Notstand" ausrief, um die Roma besser abschieben zu können. Dem Mitglied seiner Regierung, Umberto Bossi, fiel sogar der originelle Satz aus dem Maul: "Es ist leichter, Ratten zu vernichten, als die Zigeuner." Dass Italien zu den Gründerländern der EU zählt? Was solls! Wenn doch jeder weiß und duldet, dass der italienische Regierungschef nur deshalb Politiker wurde, um sich vor Strafverfolgungen zu schützen, dass die Quellen seines Reichtums trübe sind und dass der schönoperierte Herr die Gesellschaft von Minderjährigen liebt.

Also sowas würde unsere Angela nie machen, atmet der Bundesbürger hoffnungsfroh auf. Und tatsächlich. Merkel ist nicht operiert, man hört keine antisemetischen Witze von ihr und überhaupt. Überhaupt ist für den kaschierten Rassismus der Bundesregierung der Innenminister zuständig: Thomas de Maizière plant rund 10.000 Roma in das Kosovo abzuschieben. Die deutsche und europäische Öffentlichkeit weiß, dass die Zigeuner im Kosovo verfolgt werden. Dem stünde also die europäische Menschenrechtskonvention im Wege. Na, und? Unser Innenminister weist den Vorwurf der Massenabschiebung scharf zurück: "Deutschland plant keine Massenabschiebungen.“ Vielmehr solle es eine "schrittweise Rückführung“ von jährlich bis zu 2.500 Menschen geben. Ab wann beginnt Masse? Ab 2.501? Auch hier handelt das versammelte Europa nach der wunderbaren Maxime 'sagst Du nichts zu meinen Zigeunern, sage ich auch nichts zu Deinen'.

Bei kalten Dezembertemperaturen trafen sich jüngst Frau Merkel und Herr Sarkozy in Freiburg. Ob es den Freiburgern warm ums Herz wurde, als sie die mehr als 1.000 Polizisten sahen, die zur Sicherung eines deutsch-französischen Freundschafts-Treffens aufgeboten wurden? Immerhin haben die beiden Vertreter der europäischen Kernmächte darüber geredet, wie sich die EU besser gegen illegale Einwanderung schützen kann. In Zeiten schwerer wirtschaftlicher Verwerfung ein geradezu ideales Thema. Zur Ablenkung vom Wesentlichen. Und "illegale Einwanderung" hört sich allemal besser an als "Rassismus, ein Instrument um die nächsten Wahlen zu gewinnen." Parallel zum Gipfel werden erstmals deutsche Soldaten auf französischem Boden stationiert: Die deutsch-französische Brigade wird ins Elsass verlegt. Kanzlerin Merkel sprach von einer "großartigen Geste". Schon seit Wochen probt die Brigade in Baumholder einen Kampfeinsatz in Afghanistan. Nur kurze Zeit nach dem deutsch-französischen Gipfel hat Frau Merkel in Afghanistan selbst nach dem Rechten gesehen. Weihnachten, das ist die Zeit der großen romantischen Lügen: Frieden auf Erden? Das wird der europäischen Rüstungsindustrie kein Wohlgefallen sein.