Antalya? Das ist doch der Ort in der Türkei, in dem die Bettenburgen bis ans Meer reichen, der Ort, den der internationale Tourismus als Objekt seiner kleinen Begierden entdeckt hat. Im heißen Antalya fand das 2. Internationale Eurasia-Filmfestival statt, in kühlen, klimatisierten Kinos. Film-Festivals haben einen großen Vorteil: In den Filmen spiegeln sich, mehr oder minder, die Verhältnisse der abgebildeten Länder und diejenigen, die Filmfestivals organisieren oder besuchen, zählen häufig zu den neugierigen, kritischen und der Welt offenen Leuten. Wenn man will, kann man in einer Woche Festival deutlich mehr über das Gastland erfahren als in sechs Wochen Urlaub.

Das ausgerechnet der deutsche Film "Knallhart", der die Gewalttaten einer Türken-Gang in Berlin-Neukölln thematisiert, das Filmfestival eröffnete, war eher Zufall. Nicht zufällig war die anschließende Debatte, in der die Teilnehmer den Inhalt des Films nicht auf sich bezogen oder als türkisches Phänomen betrachteten: Kriminalität gäbe es überall, sie sei im wesentlichen sozial definiert. Natürlich gebe es auch unter Türken Kriminelle, wahrscheinlich doch unter Deutschen auch, oder? Kein Beleidigtsein, keine Aufgeregtheit oder politische Überkorrektheit, "Knallhart" traf auf ein abgeklärtes Publikum.

In Antalya waren es junge und intelligente Frauen, die an den Schaltstellen das Festivals dominierten. Kein Kopftuch weit und breit, von den Ganzkörperverschleierungen, die in den letzten Jahren in den türkischen Vierteln deutscher Städte Mode geworden sind, ganz zu schweigen. Wer Statistiken liebt, der hätte zählen können: Auf ein Kopftuch 40 Miniröcke und 40 zumeist enge Hosen. Das galt auch für das Straßenbild: In den Supermärkten und den Cafés der großen Städte ist das Kopftuch in der Minderheit, auf dem Land und den Kleinstädten der Provinz hat das Tuch seine Refugien. Spätestens mit der Frau des Ministerpräsidenten der Türkei, die vor dessen Amtseinführung keine Kopftuch trug, danach aber demonstrativ ihren betuchten Kopf in die Kameras hielt, wurde das Tuch allerdings zum politischen Textil.

Eine Prägung des Straßenbildes ganz anderer Art waren die überall gegenwärtigen Anti-Terror-Maßnahmen: Metalldetektoren in jedem Hotel- oder Einkaufszentrums-Eingang, Sicherheitspoller und spanische Reiter waren obligat. Als der Ministerpräsident die Festspiele besuchte, ging es nicht ohne Panzerfahrzeuge ab. Trotz der neueren, islamistisch geprägten Anschlägen sind die Maßnahmen primär gegen mögliche, kurdische Angriffe gerichtet. Die Türkei, ein Land mit mehr als zehn Ethnien, hat immer noch keine dauerhaft tragfähige Minderheiten-Politik.

Mit einem Dokumentar-Film über Dörfer der Laz, einer weniger bekannten Minderheit der Türkei, hatte ein Absolvent der Istanbuler Filmhochschule eine ebenso einfühlsame wie reich bebilderte Arbeit vorgelegt. Und wenn der Film eher nebenbei davon erzählt, dass die Laz ihre Teefelder von Pflückern aus Trabzon, dem früher sagenhaft reichen Trapezunt, bearbeiten lassen, weil viele der Laz im Ausland, insbesondere in Deutschland, ihr Geld verdienen, dann dreht sich das große Rad der Globalisierung. Ein gutes Stück "deutsches" Geld steckt im Festival, dessen Hauptsponsor aus der Metro-Beissheim-Gruppe kommt: Es soll neue und mehr Real-Märkte in der Türkei geben, man schmückt sich deshalb mit dem Festival.

Die Deutschen und die Türken kommen, anders als in Deutschland, in der Türkei ganz gut miteinander klar. So richtig verhasst sind die USA: "Wie soll man mit einem völlig verrückten US-Präsidenten leben?", fragt rhetorisch in einer Debatte ein Architekt und erfährt keinen Widerspruch. Europa sei gut beraten mit der Türkei zu kooperieren, das sei auch wichtig für die demokratische Entwicklung des eigenen Landes. Wer sonst als die Türkei solle für Europa den Kontakt zu den islamischen Ländern halten? Kopfnicken wo man hin sah. Die Gebildeten sind auf Europa orientiert, seit den Atatürk-Reformen in den zwanziger Jahren findet Asien, oder das was traditionalistisch darunter verstanden wird, nur noch auf dem Land und in der Unterschicht statt.

Ein holländischer Film bebilderte die Kopftuchfrage aus der Sicht einer jungen Türkin so, als ginge es um eine ganz persönliche Entscheidung, um eine Frage zwischen Religion und Mode. Thema verfehlt, meinten die schicken Festival-Türkinnen, es gehe fraglos um mehr, nämlich um die Emanzipation. Zwar wurde das Wahlrecht für Frauen in der Türkei deutlich eher eingeführt als in Frankreich oder der Schweiz, aber der Anteil der Frauen im Parlament liegt heute unter dem von 1935 und da waren es nur 4,6 Prozent. Immerhin wurden 2004 erstmals die so genannten "Ehrenmorde" unter Strafe gestellt, aber das tägliche Leben hinkt der Gesetzgebung hinterher.

Mit dem Film "Climates", einer französischen Produktion, deren Mannschaft, vom Bestboy bis zum Regisseur, aber komplett türkisch war, ist dem Festival ein kluger, leicht ironischer Beitrag zum Frauen-Männer-Verhältnis gelungen. Er erzählt die Probleme der Großstädter auf dem Weg zu einer Beziehung oder aus einer Beziehung hinaus, mit einem Macho im Mittelpunkt, dessen gespreiztes Getue den Frauen im Kino nachhaltiges Gekicher abforderte, von den Männern war nichts zu hören. Eine lang ausgespielte, wütende Sexszene ließ die Klimaanlage kurzzeitig schwächeln, provozierte aber keinen Protest. Hätte das Unhappy-End nicht im Schnee der türkischen Ostprovinz stattgefunden, wären Berlin oder Paris als Orte der Handlung ebenfalls denkbar gewesen. Europa und dessen Mann-Frau-Mißverständnis reicht eben bis Asien.

Mit höflichem Missfallen wurde von den türkischen Gastgebern Äußerungen des bayerischen Landeschef aufgenommen, der mal wieder die potentielle EU-Mitgliedschaft der Türkei infrage stellte. Stoiber warf dem Ministerpräsidenten der Türkei vor, der habe "besonders aggressiv auf den Papst reagiert". Erdogan hat tatsächlich eine Entschuldigung vom Papst gefordert. Diesen Wunsch darf man sanft und nett nennen, wenn man erinnert, dass der Papst jüngst, mitten in der Islam-Debatte, einen byzantinischen Kaiser zitierte, der den Islam als besonders aggressiv empfand. Ein kleines Wort zu den christlichen Kreuzzügen gegen den Islam in jener Zeit hätte dieses Zitat in ein historisches Verhältnis gesetzt, kam dem Papst aber nicht über die Lippen. Natürlich warf der Herr Stoiber auch erneut die Frage nach den unterschiedlichen Kulturen, denen zwischen Europa und Asien, auf.

Nicht sehr weit von Antalya findet sich mit dem Ort Troja eine der Wiegen der Menschheit und der europäischen Mythen. In der selben historischen Region kann man den Ort Pergamanon besuchen, dessen berühmter Altar die Berliner Museumsinsel ziert. In genau diesem kleinasiatischen Raum entstand eine blühende, griechische Kultur, deren Reste von den Türken gepflegt und popularisiert wird. Unter anderem mit einem Film über die Ausgrabungen in Troja, den das Festival mit allem Pomp in einer Gala-Premiere in Szene setzte.

Die ältere Geschichte der Region ist, ohne dass die West-Europäer sie in der Türkei verorten, durch den großen Dichter Homer durchweg bekannt. Von der jüngeren Geschichte wissen wenige Westeuropäer, ganz sicher auch nicht der Herr Stoiber. Denn, dass die letzte Aggression gegen die Türkei von europäischen Länder ausgegangen ist, dass Italien, Frankreich und Griechenland nach dem Ersten Weltkrieg die Türkei besetzt und weitgehend unter sich aufgeteilt hatten, bis Mustafa Kemal, genannt Atatürk, mit seiner Bauernarmee die Okkupanten nach Hause schickte, ist in der Europäischen Union vergessen, verdrängt. Völker haben für Unrecht das man ihnen antut ein langes Gedächtnis. Das von Herrn Stoiber langt immer nur von einem "Äh" zum anderen.

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