Während das Schlagzeilen-Europa humanitäre Invasionen in Libyen vorsieht, großzügige Rettungsschirme an spekulierende Banken verteilt und mit den Daten seiner Bürger Vorräte für die Polizei anlegt, verabschieden die Ungarn eine neue Verfassung, die sich von Europa verabschiedet: Ungarns "Nationales Bekenntnis" beruft sich auf die "Heilige Ungarische Krone". Nicht auf das Volk, das Parlament oder die Demokratie, also auf Elemente, die dem europäischen Verfassungsvertrag nahekommen und in den Verfassungen anderer europäischer Nationen vorgesehen sind. Sondern auf eine mythische, heilige Krone, die durch nichts legitimiert ist aber jede Menge antieuropäischer Ansprüche anmeldet.

Ausdrücklich sieht der Artikel D der neuen ungarischen Verfassung vor, dass Ungarn "von der einheitlichen ungarischen Nation geleitet" die "Verantwortung für das Schicksal der außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn" trägt. Und weil es ungefähr drei Millionen Ungarn außerhalb der Landesgrenzen gibt, weil davon in Rumänien fast 1,5 Millionen leben, eine halbe Million in der Slowakei und immerhin noch 300.000 in Serbien, ist der ungarische Verfassungsanspruch unmittelbar gegen die Nachbarn des Landes in Europa gerichtet. "Gott segne Ungarn", so beginnt der Verfassungstext und wie immer, wenn Gott die einen segnen soll, sind die anderen des Teufels.

Ungarn grenze nur an sich selbst, hatte der ungarische Ministerpräsident schon in Vorbereitung des Verfassungsprozesses gesagt und mit dieser Bemerkung das nationalistische Süppchen aufgekocht, aus dem er seinen Wahlerfolg löffelt. Doch über diese Attacke auf seine Nachbarn hinaus, stellt die Berufung auf die "Heilige Ungarische Krone" auch einen heftigen Angriff auf die demokratischen Ansprüche der Europäischen Union dar. Denn die Krone, so wird in der Präambel festgelegt, verkörpere "die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität". Also keine Rede von Menschenrechten, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die in der Präambel des EU-Vertrages einen prominenten Platz einnehmen.

Fröhlich schmückt sich die Ungarische Verfassung mit Versatzstücken aus dem Mittelalter und ist deshalb "stolz darauf, dass unser Volk Europa jahrhundertlang in Schlachten verteidigt hat". Dass das Reitervolk der Magyaren erst 955, nach der Schlacht auf dem Lechfeld, von seinen Raubzügen in allen möglichen Gegenden Europas abgehalten werden konnte findet im "Nationalen Bekenntnis" nicht statt. Und dass einer der ungarischen Stammesfürsten erst nach einem Deal mit dem Papst zum ungarischen König (Stephan I.) wurde, um dann die Christianisierung seiner Landsleute mit Feuer und Schwert zu betreiben, irritierte die Verfassungstexter auch nicht: Es hagelt in der Präambel von der "Rolle des Christentums" und vom "christlichen Europa", um dann mächtig "stolz auf unsere Ahnen" zu sein.

Aus Brüssel kein Wort zu dieser Verfassung, die dem europäischen Gedanken und der europäischen Einheit diametral entgegengesetzt ist. Vielleicht hat man noch mal in die eigene Präambel geschaut und sich erinnert, dass die wichtigsten Textpassagen dort der Wirtschafts- und Währungsunion und der gemeinsamen Verteidigungspolitik gelten. Und tatsächlich ist die europäische Praxis weniger von Demokratie, der Angleichung von Lebensverhältnissen und sozialen Standards geprägt als von Bankenrettungen und Bombardements in Libyen. Während die Konzentration auf das Militärisch-Fiskalische den europäischen Patienten kränkeln lässt, kann die antieuropäische Verfassung Ungarns - wenn sie unsanktioniert bleibt - zum Tod durch aufgeblähten Nationalismus führen.