"Weise" nennt der amerikanische Präsident die deutsche Kanzlerin anlässlich ihres jüngsten Besuches und fragt dann, erstaunlich selbstkritisch, ob er ihr mit dieser Äußerung nütze. Was Merkel nützt oder nicht, ist angesichts ihrer Stellung in der deutschen Verfassung völlig unerheblich. Erheblich ist die Frage, was die Dame uns, den Bürgern nützt. Zumal die Auslandsreisen der Bundeskanzlerin im Verdacht des Eskapismus stehen: Nichts wie weg von den realen deutschen Problemen, hin zu den purpurnen Horizonten der Außenpolitik, das scheint die Devise der Kanzlerin zu sein.

In Deutschland warten seit langem eine Reihe ungelöster Probleme auf eine Kanzlerin und eine Regierung, die mehr können sollten als Werbeagenturen mit der Verbesserung ihres Images zu beauftragen. Renten-, Gesundheits- und Bildungs-Systeme sind seit Jahren in schlechtem Zustand und eine Besserung ist nicht abzusehen. Es sind diese drei wesentliche Felder gesellschaftlichen Befindens, die schon zu Zeiten des Herrn Kohl vernachlässigt, die dann während der Kanzlerschaft Schröders mit einem gleissenden Reformscheinwerfer angeleuchtet wurden, um nun, nahezu täglich, für nicht mehr als flaue Schlagzeilen und kollektives Kopfschütteln herzuhalten.

Den ersten großen Reformschub auf dem Feld der deutschen Renten- und Krankenversicherung legt die Geschichtswissenschaft gerne unter dem Namen Bismarck ab. Der damalige Reichskanzler hatte es, zu Beginn der deutschen Industrialisierung, mit hartnäckigen sozialdemokratischen Reformestrebungen in den Betrieben zu tun. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde begriffen, dass Arbeit krank machen konnte. Und dass die besitzlosen Fabrikbeschäftigten, anders als selbst die kleinsten Kleinbauern , nicht auf ihre Kinder zur Abwendung von Altersarmut zurückgreifen konnten.

Selbstverständlich empfand die Mehrheit der Fabrikanten die Forderung der jungen Arbeiterbewegung als zu teuer und daher lästig. Als noch lästiger aber begriff die deutsche Regierung jener Zeit, eine wacklige Koalition zur Rettung von Kaiser- und Eigentum, die aufstrebende Sozialdemokratie. Sie war der Revolution verdächtig und so bekamen einerseits die Partei Auftrittsverbot und andererseits ihre Wähler als Zückerchen eine Krankenkasse (1883) und einen Rentenkasse (1891). Die Rente, sie wurde damals ab dem 70 Lebensjahr gezahlt, ist bis heute ein sozialdemokratisches Thema: Arbeitsminister Müntefering will zwar nicht zu den revolutionären Anfängen seiner Partei zurück, aber an das damalige Renteneintrittsalter robbt er sich schon mal ran.

Auch die letzte Bildungsreform, die den Namen Reform verdiente, liegt lange zurück. Ende der sechziger Jahre konstatierte die empörte Öffentlichkeit der alten Bundesrepublik überfüllte Schulen und Hörsäle und eine soziale Ausgrenzung an den Universitäten. Studentische Proteste und eine kritische Medienöffentlichkeit führten zum Bau neuer Universitäten, zur Abschaffung von Studiengebühren und zur Einführung des "Bafög". Tatsächlich wiederholt sich die Geschichte zuweilen als Farce: Obwohl das vereinte Land nicht ärmer ist als die Westrepublik der Sechziger, obwohl der Modernisierungsbedarf nicht geringer geworden ist, sondern, angesichts einer Reihe technologischer Lücken der deutschen Wirtschaft, eher höher, sind die Universitäten wieder überfüllt, die Studiengebühren werden nicht ab- sondern angeschafft, und die Zahl der Studierenden aus sozial schwächeren Haushalten sinkt rapide. Auch hier ist, ähnlich wie in der Rentenfrage, die regierungsamtliche Lösung reaktionär und trägt den Namen Eliteuniversität. Eine Million Schulabbrecher jährlich, dazu bekennt sich die Regierungsstatistik schamlos.

Der letzte deutsche Repräsentant, dessen häufige Reisen als verhaltensauffällig bemerkt wurden, war Wilhelm II, der auch der "Reise-Kaiser" genannt wurde. Wilhelm galt als minderbegabt und mischte sich gern, so sah es der intelligentere Teil der deutschen Öffentlichkeit, in Sachen ein, die ihn partout nichts angingen und von denen er auch nichts verstand. Nicht, dass man der Merkel unterstellen sollte, sie hätte Lust einen Weltkrieg anzuzetteln. Aber ein Satz von Merkel zu Bush wie: "Ich glaube, es ist wichtig - auch mit dem Blick auf die nicht-konstruktiven Kräfte der Hamas - deutlich zu machen: Die EU und USA lassen sich nicht gegeneinander ausspielen", der lässt den braven, von innenpolitischen Problemen gequälten Bürger doch zusammenzucken. Denn wer im Nahen Osten mit den USA gemeinsam spielt, der steht mit einem Bein im Krieg.

Die Medizin kennt den Ausdruck "Absencen". Mit Frau Merkel lernen wir Abwesenheiten kennen. Damit sind nicht nur die Auslandsfluchten einer Kanzlerin gemeint. Sondern eine Abwesenheit von Geist, immer dann, wenn er vonnöten wäre. Frühere deutsche Regierungen, ob um 1890 oder um 1960, wurden von ihren Wählern zu wirklichen Reformen gezwungen. Wenn man den TV-Sendern der Deutschen lauscht und deren Zeitungen liest, bleibt ein gewisses Mitleid nicht aus. Auch hier ist die Abwesenheit von Geist das entscheidende Merkmal für Quote und Auflage. Die "Weisheit" der USA breitet sich aus.

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