MEHR ALS FÜNF MILLIONEN
LEBEN VON HARTZ IV

Jens fährt Rad. Seit Jahren. Bei jedem Wetter. Über fast alle Distanzen. Was sich wie eine sportliche Leidenschaft anhört, ist die pure Notwendigkeit. Denn Jens lebt von Hartz IV. Jüngst kam er in eine Verkehrskontrolle. Sein Personalausweis war abgelaufen. Der neue tolle Ausweis kostet 28,80 Euro. Das hat das Ministerium berücksichtigt: Im Hartz-Regelsatz sind jetzt monatlich 25 Cent für den neuen Ausweis eingeplant. Nach zehn Jahren Sparen kann sich auch Jens einen neuen Ausweis leisten. Woher er die acht Euro für das erforderlich biometrische Foto nehmen soll, weiß er nicht. Auch das Bußgeld, das wegen des ungültigen alten Personalausweises fällig wurde, kann er nicht zahlen.

GUT HUNDERTTAUSEND MENSCHEN SIND BEI
DER AGENTUR FÜR ARBEIT BESCHÄFTIGT

Auch Jana fährt gern Rad. Natürlich nur, wenn es nicht regnet. Sonst lieber mit den Öffentlichen. Die Jahreskarte dafür kostet sie so viel wie zweimal Hartz IV. Das ist nicht wenig, aber Jana hat einen festen Job. Im Jobcenter. Eine Konstruktion der Agentur für Arbeit und der Kommunen. Da geht sie monatlich mit 1.300 Euro nach Hause. Das ist nicht super viel. Aber ihre Miete ist nicht so hoch. Jana legt Monat für Monat Geld beiseite. Sie will ein paar Wochen in die Toskana. Nicht mit dem Rad. Erst Flieger, dann Leihwagen. Passt schon, sagt sie.

RUND 11,5 MILLIONEN DEUTSCHE
LEBEN IN ARMUT

Wenn Jens Urlaub machen will, muss er das im Jobcenter anmelden. Denn es könnte ja sein, dass man einen Job für ihn hat. Und wenn er dann nicht zu Hause ist, kann man ihm das nicht mitteilen. Jens ist seit dem Jahr 2000 Kunde bei der Agentur für Arbeit. Dass die ihm mal einen Job angeboten hätten, kann er nicht erinnern. Mehr als drei Wochen Urlaub stehen ihm nicht zu. Wenn das Wetter gut ist bin ich am Baggersee, sagt er. Im Rest des Jahres versucht er Arbeit zu finden. Nicht über das Jobcenter. Die haben ohnehin nichts für ihn. Trotzdem ist er alle drei Monate auf dem Amt. Dort will man wissen, ob er sich auch wirklich um Arbeit bemüht.

ES GIBT MEHR ALS 7 MILLIONEN
400-EURO-JOBBER

Jana kennt ihre Kunden: Es sind Trickser dabei, sagt sie. Die drücken sich, wenn wir ihnen Maßnahmen anbieten. Kunden nennt man im Neusprech die Arbeitslosen. Maßnahmen sind Pflicht-Lehrgänge. Wer sich davor drückt, kann gesperrt werden. Sperren heißt: Kürzung oder Wegfall von Hartz IV. Jana macht das nicht gern. Aber Gesetz ist Gesetz. Und außerdem: Viele Kunden haben nach Jahren der Arbeitslosigkeit keine Motivation mehr sich zu bewerben. Die stehen morgens nicht mal mehr auf. Das lernen die dann in der Maßnahme wieder. Vielleicht gibt es danach wenigstens einen Minijob, für 400 Euro monatlich. Aber darauf sind jede Menge Rentner, Krankenschwestern und sogar Polizisten, die sich was dazuverdienen wollen, auch scharf.

RUND EINE MILLION
LEBEN VON LEIHARBEIT

Ab und an findet Jens auch einen Leiharbeiter-Job. Aber die Beschäftigungszeiten werden immer kürzer. Einen festen Job hat er darüber nie bekommen. Und weil er auch keine Arbeitskraftverleih-Zeit von einem kompletten Jahr mehr findet, gibt es auch für ihn kein richtiges Arbeitslosengeld. Denn das setzt mindestens ein Jahr einer versicherungspflichtigen Beschäftigung voraus. Aber bald, sagt Jens, bin ich wieder beim Job-Center beschäftigt. Dann geht es wieder in eine Maßnahme: Sechs Wochen täglich lernen wie man sich bewirbt. Nach über tausend Bewerbungen, meint Jens, kann ich das schon. Nach den sechs Wochen dann monatelang nur noch zweimal in der Woche zum Amt. Früh aufstehen lernen. Auch das, glaubt Jens, könne er schon.

890 JOB-CENTER IN DEUTSCHLAND

Manchmal, sagt Jana, kriege ich einen Shopping-Anfall. Wenn Du den ganzen Tag nur Loser siehst, denen Du sowieso nicht helfen kannst, dann musst Du mal raus. Dann ist der Frustkauf fällig. Wir sind hier wie eine Industrie. Aber wir stellen nichts her. Außer heiße Luft. Am liebsten würde ich mich selbstständig machen. Irgendwas Kreatives. Oder so.

Manchmal, sagt Jens, kriege ich einen Wutanfall. Dann könnte ich alles kurz und klein schlagen. Wie die in England. Oder so.

FAST SIEBEN MILLIONEN NIEDRIGLÖHNER

Die deutsche Luft ist voller Krise. Die des Euro, jene der Banken und natürlich die einer Regierung, die ihre Konzepte zur Krisenbekämpfung von der Hand in den Mund entwickelt. Die Dauerpleite von Millionen Menschen, den Hartzern, Minijobbern und Ausgeliehenen wird fast nicht mehr bemerkt. Ein Rettungsplan für sie ist nicht in Sicht. Den werden sie wohl selbst machen müssen.