Als vor langer Zeit das kommunistische Weltreich implodierte, war die Freude groß: "Schluss mit dem großen kalten und den vielen kleinen Kriegen", die sich aus der Feindschaft der beiden Weltsysteme entwickelt hatten, riefen die Völker oder vielmehr deren beamtete Stellvertreter. Das Ende der Geschichte wurde plakatiert, weil allgemein bekannt war, dass die Geschichte die der Kriege und nicht die des Fortschritts sein konnte. Überall, verkündeten die Ökonomen, herrsche jetzt der Kapitalismus, der sei das siegreiche System und deshalb bräche jetzt eine Epoche des Segens, allgemeiner Zufriedenheit und der Völkerfreundschaft aus.
Als dann, Jahr um Jahr, der Frieden ausgebrochen war, und die Völker immer einträchtiger nach Wohlstand und Glück strebten, fing ich an mich zu langweilen. Wo waren all die schönen Kriege geblieben, die spannenden Momente, in denen die USA den Sowjets in Afrika oder anderswo zeigten, wer das Sagen hatte. Oder die schicken Blitzfeldzüge, wie der in Afghanistan, als die Sowjetunion ihr Glacis in Ordnung bringen wollte? Auch die inneren Zustände der Länder - nachdem die ganzen schaurigen Klassenkämpfe mangels neuer sozialer Perspektiven stark zurück gegangen waren - tendierten zu einer einzigen Sozialkumpanei, in der kein Platz mehr war für Streiks, Demonstrationen und feurige Reden.
Selbst die Agentenfilme im Fernsehen, nächst den früher meist blutigen TV-Nachrichten meine liebste Geistesspeise, wurden mir fad. Erzählten sie doch von Zeiten und Verhältnissen, die es nicht mehr gab. Das große Böse war mit dem Kommunismus aus der Welt verschwunden und das kleine, die Hühnerdieberei, die Bagatellfälle, verschwand in dem Maße, wie die Völker, befreit von der Kräfte und Mittel bindenden Systemkonkurrenz, sich auf die Entfaltung ihrer Wirtschaftskraft konzentrierten, um alle sozialen Bedürfnisse so zu befriedigen, dass keiner mehr zum Klauen gezwungen war.
Verheerend waren auch die Erscheinungen in Literatur, Film und Theater. Weil die kommunistische Unterdrückung die Welt verlassen hatte, fiel das große Thema des Menschenrechtes, des Kampfes um Freiheit und Gerechtigkeit einfach weg. Auch Nebenthemen wie das der Solidarität mit den Unterdrückten wurden überflüssig. Die Kunst fischte nur noch in den lauen Wässern von Liebe und Freundschaft. Mit dem Ende der Geschichte gingen auch die Geschichten ihrem Ende zu und ein großes Gähnen überkam die Welt und damit auch mich.
Als vor ein paar Jahren die neuen Leute in unser Haus einzogen, dachte ich mir anfänglich nichts dabei. Sie trennten ihren Müll selten oder nie. Ihre Musik war von quäkenden, schrillen Pfeifen geprägt. Ihre Kinder, zwei Mädchen, spielten nicht mit den anderen Kindern, durften aber bis tief in die Nacht aufbleiben. Der Vater, der, wie auch immer, von einem meiner Geburtstage gehört hatte, wünschte mir »hässlichen Glückwunsch«, er meinte sicher »herzlichen«, hatte aber einen so schauderhaften Akzent, dass mir sein Wunsch zu denken gab. Die Mutter huschte scheu durch das Treppenhaus, schaute mir nie in die Augen, und ich, der ich ihr gerne ins Gesicht geschaut hätte, wurde durch ein großes, fest gebundenes Kopftuch daran gehindert.
Nicht, dass ich dem Fremden feindlich gewesen wäre. Jedes Jahr fuhr ich in eines der warmen Ausländer, trank den dort heimischen Kaffee und aß fast alles, was die örtliche Küche hergab. Beim Italiener ging mir ein »Ciao« ziemlich flott von den Lippen und manchmal, an melancholischen Regentagen, sah ich mir sogar französische Filme mit englischen Untertiteln an. Aber die fremden Nachbarn waren mir dann doch fremder als es mir recht gewesen wäre. Andererseits rührte ihre Fremdheit an meine Langeweile, entwickelte ich doch, zum ersten Mal wieder nach dem Ende der Zweiteilung der Welt, böse Gefühle und ein Hauch von Spannung stieg in mir auf, eine Ahnung davon, dass es ein Ende haben könnte mit dem Ende der Geschichte.
Das alljährliche Hausfest auf unserem Hinterhof beginnt immer mit einer Riesengrillerei, Berge von Bratwürsten, Wannen voller marinierter Nackenkoteletts und Eimer gebackener Kartoffeln bilden die Grundlage für eine gut organisierte und heftige Sauferei. Nun wäre es mir primitiv erschienen, wenn ich den Kulturkampf, über den ich seit Wochen brütete, an einem Stück Schweinefleisch, das die neuen Nachbarn ihrer Religion wegen nicht hätten essen dürfen, aufgezäumt hätte. Es waren immer geistige Werte, die uns von denen im Osten unterschieden hatten und auch die neue, dramaturgisch notwendige Spaltung sollte auf den Gipfeln der Zivilisation entstehen, wollte aus hohen, ethischen Gründen abgeleitet werden. Deshalb sagte ich »Prost«.
Das schmale aber kräftige Glas lag sicher in meiner Hand, die klare Flüssigkeit roch aromatisch nach südlichen Trauben, das war kein deutscher Doppelkorn, was da im Glase glänzte, das war eine Grappa, mit der ich schon seit längerem meine Leber einer gewissen Weltläufigkeit unterzogen hatte. Stille kehrte auf dem Hof ein. Wo eben noch bierselige Gemütlichkeit über den Rasen gelärmt hatte, schwiegen nun alle und sahen uns, den Neuen und mich, erwartungsvoll an. Der neue Nachbar verweigerte, wie von mir berechnet, den Bescheid, das antwortende »Prost« und den einverständigen Schluck, mit der Begründung, er tränke keinen Alkohol.
Unter dem Mantel der Abstinenz konnte nichts anderes verborgen sein als Impertinenz, nicht der Schnaps wurde abgelehnt sondern meine Kultur und ich. Es war, so empfanden auch alle anderen aus unserem Haus, keine Frage des Trinkens sondern eine der Ehre. Schon immer war das europäische Trinken ein Faktor des Friedens und der Zivilisation gewesen. Hob doch das gemeinsame Trinken soziale und nationale Unterschiede auf, waren doch lange Trinkereien nicht selten Anlass für tiefsinnige Betrachtungen, deren Gehalt die Wurzeln aller Philosophie bildeten. Und ist die Eckkneipe und deren Stammtisch nicht bis heute Hort und Quelle der Demokratie?
Wir haben dann mit den neuen Leuten aus unserem Haus nicht mehr geredet, ihnen den täglichen Gruß verweigert und sie solange als die Schurken behandelt, als die sie sich in dem Moment herausgestellt hatten, als sie unsere Ehre mit Füße traten. Sie sind, Monate nach unserem Hoffest, in ihr Land zurück gezogen. Es heißt, sie wiederum hätten verbreitet, wir wären ihnen feindlich gesonnen und wollten sie und alle anderen ihrer Religion zwingen, ihre Bräuche zu verleugnen.
Das alles liegt nun Jahre zurück. Die Welt ist wieder voller Spannung und meine resignierte Langeweile ist einem hoffnungsfrohen Optimismus gewichen. Viele Länder und deren Präsidenten haben sich meiner Haltung angeschlossen und verteidigen nun die Zivilisation, wo immer sie nicht vorgefunden wird. Was mit einem Haarriss auf unserem Hof begann, hat sich zu einer Kluft, einem Abgrund entwickelt. Das Nachrichtenwesen ist aufgeblüht und auch die Kinos sollen wieder voller geworden sein. Ehrlich gesagt, den Kommunismus vermisse ich keine Sekunde.