Es war der unvergleichliche Helmut Kohl, dem einst der Satz von der "Gnade der späten Geburt" entglitt, und der damit alle deutschen Generationen, die nach Kriegsende geboren waren, von dem, was vorher war, freisprechen wollte. Als könnte man sich von der Geschichte seines Landes befreien. Wer Beethoven, Goethe und Rosa Luxemburg erbte, der erbte natürlich auch Wilhelm Zwo, Hindenburg und Hitler.
Obwohl ich noch gar nicht richtig hören konnte, wurde mir das am 15. Juni 1945 unmissverständlich klar gemacht. Meine arme Mutter hatte mich im Bauch und musste in ein weiter entferntes Krankenhaus zur Endbindung. Wie sie im tiefen Thüringen einen amerikanischen Soldaten, der auch noch fließend deutsch sprach, überreden konnte, seinen Jeep als Geburtshelfer-Taxi einzusetzen, wußte sie nicht mehr. Aber die Frage des Soldaten hatte sie immer im Ohr: "Na, ein Junge für den Führer?" Diese pränatale Prägung machte ihren Sohn sein Leben lang untauglich für das Geführt-Werden. Im Gegenteil: Lieber andere an der Nase rumführen, als selbst geführt werden, das wurde dauerhaft zu seiner Maxime.
Eine Maxime, die mir im Düsseldorfer Arbeiter-Vorort Rath, in dem ich aufwuchs, wenig helfen sollte: Hier wurde der Takt von den Mannesmann Röhrenwerken bestimmt, hier stahl ich, gemeinsam mit meinen Freund Butzi, Edelmetall in den Ruinen des Rüstungsbetriebes Rheinmetall, um es unter Wert an einen Schrotthändler zu verkaufen, der die beiden Fünfjährigen mit Vergnügen übers Ohr haute. Im grauen Rath kannte keiner Maximen. Nicht mal das Wort "maximal" war bekannt, obwohl ich mir eine maximale Schelte eingefangen hatte: Bei den Nachbarn hatte ich den Ruf ein "Oberammer-Gauner" zu sein. Das galt als die höchstmögliche Steigerung von Gauner und war mir vorbehalten, wenn ich Obst aus den Schrebergärten klaute, freche Antworten gab oder mal wieder auf der Bleiche Fußball spielte, die doch nur für die saubere Wäsche war und nicht für meine Drecksschuhe. Ein Jahr später, als ich regelmäßig nach der Schule verprügelt werden sollte, weil mein Hochdeutsch zu fein für die Ohren meiner Klassenkameraden klang, kam dann doch eine Maxime zu meinen Gunsten zur Anwendung. Allerdings nicht die meine.
Günni, der eigentlich Günther hieß, tauchte in meiner Klasse auf. Er hatte aus seiner kommunistischen Familie Maximen wie "Gerechtigkeit" und "Schutz der Schwachen gegen die Starken" mitbekommen. Günni war sitzen geblieben. Auch, weil die Lehrer meinten, er solle doch lieber seinem Bruder in eine der Kolchosen in der Ost-Zone folgen. Kolchose, das klang irgendwie bedrohlich. Aber Günni hatte mich als sein Exempel für Solidarität ausgesucht, und weil er älter und größer war als die anderen, bekamen die jetzt die Prügel, von ihm. Das machte mir die Kolchose, von der ich lange nicht wusste was sie denn war, sehr sympathisch. So wurde ich früh zu dem, was Jahrzehnte später "Sympathisant" genannt wurde. Günther bin ich heute noch dankbar. Auch weil ich durch ihn früh schon lernte, dass der Kommunismus keine Fratze haben muss, auch wenn es damals allenthalben hieß: "Die Fratze des Kommunismus." Es sollten später noch eine Reihe anderer Fratzen hinzu kommen: Die des Bösen, jene des Islam und überhaupt. Deshalb stehe ich der "Fratze" bis heute skeptisch gegenüber: Es könnte sich hinter ihr immer ein Günni verbergen. Und dann?
In der nächsten Klasse war Günni nicht mehr da. Der Lehrer sagte, er sei jetzt rüber, in sein Arbeiter-Paradies Das "Paradies" hörte sich bei ihm an wie ein Schwindel. Auch dem Paradies im Religionsunterricht mochte ich nicht mehr trauen: Wegen eines Apfels so ein Theater! Mit der Religion konnte nicht viel los sein: Nicht mal wenn man den angeblich lieben Gott inständig darum bat, nicht mehr verhauen zu werden, jetzt, wo Günni weg war. Es gab nur zwei Alternativen: Schnell weglaufen, bevor mich die anderen erwischten, oder die Schule schwänzen. Weil ich nicht immer schnell genug war, schwänzte ich häufig die Schule. Später sollte ich zum Schulabbrecher aufsteigen. Ein Düsseldorfer Eliten-Gymnasium hatte gerade noch auf mich gewartet. Wo die Söhnchen der Brauereibesitzer, der Autogroßhändler und Baustofflieferanten die Bänke drückten, da war eigentlich kein Platz für den Sohn eines kleinen Angestellten. Das machte auch der Klassenlehrer meinem Vater in einem Brief unmissverständlich klar: "Ich darf annehmen, dass auch Sie es nicht für richtig halten, wenn ich mit verschränkten Armen angesprochen werde und in meinem eigenen Sprechen unterbrochen werde." Der Mann hatte seinen linken Arm in Stalingrad gelassen, eine ordentliche Habachtstellung schätze er immer noch.
Runter vom Gymnasium, rein in die private Handelschule, von dort aus zu einer Lehre als Industriekaufmann. Nichts davon bereitete einen darauf vor, seinen unendlich langweiligen und zugleich erniedrigenden Grundwehrdienst zu leisten: In Nienburg a. d. Weser sollte ich das Vaterland gegen die Russen verteidigen. Die Waffe, die wir im "Raketenartillerie Bataillon 12" zur Russenabwehr hatten, hieß "Honest John". Die hatten schon die Amerikaner erfolglos auf die Köpfe der Koreaner in dem nach ihnen benannten Krieg geworfen. Immerhin konnte man sie mit atomaren Sprengköpfen bestücken und glatte vierzig Kilometer weit schießen. Damit wäre von Nienburg das nahegelegene Hannover gut zu erreichen gewesen. Gegen den tödlichen atomaren Fallout, der weiter reichte als wir unsere Rakete werfen konnten, hatten wir eine grünliche Plane aus Kunststoff mit eingewebten Metallfäden. Dem Feldwebel, der uns erzählen musste, die Plane sei unser bester Schutz - besser jedenfalls als die sprichwörtliche Aktentasche, die sich Zivilisten bei einer Atomexplosion über den Kopf halten sollten - sah man am Gesicht an, dass er den Blödsinn auch nicht glaubte. Bis zum Ende meiner Dienstzeit kam der Russe nicht. Auch später war nichts von ihm zu sehen. Ich gebe zu, dass mich diese ganze Warterei auf den Russen auch auf den Sozialismus neugierig gemacht hatte. War der Iwan, wie wir ihn vertraulich nannten, vielleicht doch ganz anders als er in Medien und dem Bundeswehrunterricht zu sein schien? Trug er gar keine Fratze? Und wenn doch, wer hatte sie ihm aufgesetzt?
Alle waren sie gegen Ende der 60er Jahre, wenn sie nur alt genug und nicht zu jung waren, "Achtundsechziger". Wie hätte ich mich davor drücken können?. Wahrscheinlich deshalb wurde ich Gründungsmitglied des sozialistischen Debattierclubs "Republikanisches Centrum" in Düsseldorf, traf dort zwar keinen Russen aber echte Kommunisten in der Musik- und Theatergruppe "Die Conrads". Zeitweilig engagierte ich mich bei deren Straßentheater und wurde dort vom Sympathiesanten zum Kommunisten. Es war ein sehr spannender und sehr lehrreicher Irrtum, der mir erst bei einem Moskau-Aufenthalt 1987, einem wichtigen Jahr der Perestroika, so richtig aufging: Weder hatten die Russen eine Fratze (Gorbatschow) noch waren sie klüger als andere (Jelzin), gemeinsam waren sie nicht mal mystisch, auch nicht besonders politisch (Gorbatschow), sondern eher ungebildet (Jelzin). In Wahrheit: Es gab den Russen gar nicht mehr, nur sein Bild existierte noch wie das Lächeln der Cheshire-Katze in Alices Wonderland, ein Lächeln, das noch in der Luft hängt wenn die Katze längst weg ist.
Der Russe war noch gar nicht richtig weg aus dem Osten Deutschlands, aus der sich auflösenden DDR, da kam sie schon: Die Deutsche Einheit. Hatte ich dafür früher Raketen auf den Osten gerichtet? Hatte ich dafür später den Sozialismus gepredigt? Auf diese flotte Auflösung einer konkurrienden Alternative (so schlecht sie auch war) zum Kapitalismus war ich nicht vorbereitet. Bisher hatte ich ein Vaterland (BRD) und ein Mutterland (DDR) gehabt. Nun sollte das alles eins sein? Und so geriet ich mitten in die Einheit, nach Berlin, in das ich der Liebe und des Geldes wegen gezogen war. Mit der Liebe, der Partnerin, begann ich Filme zu machen. Das Geld verdiente ich in einer Werbeagentur. Der Laden war ein heftiger Lehrgang zum Thema wie Kapitalismus funktioniert: Man nehme kurze Gedanken, winde grafische Kränze um sie herum und verkaufe sie dann. Dafür hatte ich gut trainiert: Der Versuch, mit der sozialistischen Idee ein unverkäufliches Produkt zu verkaufen, bereitet den Menschen durchaus darauf vor, ein normales Gesöff als das beste Bier aller Zeiten zu preisen. Das gilt auch für schlechte Möbelhäuser oder durchschnittliche Bundesländerverfassungen. Der Osten hatte ja bisher nichts davon. Zwei von den Verfassungen wurden von mir beworben. Immerhin gewann ich gemeinsam mit dem Designer Fürcho 1990 einen Wettbewerb des Magazins "Prinz" für ein Plakat zur Deutschen Einheit. Mit dem Spruch "Einigkeit schmeckt nur in Freiheit" sollte zart angedeutet werden, dass die DDR-Leute mal wieder keine Wahl hatten: Sie wurden beigetreten. Solche Feinheiten hat dann keiner bemerkt.
Die Einheit wurde man in dieser Zeit einfach nicht los, erst recht nicht in Berlin, dessen neue Mitte am Potsdamer Platz entstehen sollte: Wo bisher Westberlin ummauert war, sollte nun die deutsche Einheit untermauert werden. Um den Berlinern, die bisher zwei Mitten hatten, eine in Ost und eine Weste, Geschmack an einer dritten zu machen, ließ der Berliner Senat mit seinen Geschäftspartnern eine "Info Box" auf den alten aber aus Kriegs- und Teilungsgründen leeren Platz bauen. Diese rote Box, deren Betreuung ich für die Bauverwaltung übernahm, war wohl mein größtes Projekt: Mehr als zehn Millionen Menschen wurden durch den Bau, der auf Stelzen stand, geschleust, um den Berlinern und deren Gästen klar zu machen, dass die Planung einer Shopping-Mall, einiger postamerikanischer Hochhäuser und eines dem Fujiyama nachempfundenem Dach mit Beleuchtung eine glückliche deutsche Zukunft bedeuten würde. Millionen von Touristen, die sich nun Jahr für Jahr am Potsdamer Platz herumdrücken, glauben das immer noch.
Als das mit der glücklichen deutschen Zukunft immer fragwürdiger wurde, als die einst linken GRÜNEN zur Kriegspartei, die einst sozialen Sozialdemokraten zur neoliberalen Partei verkamen, war es verdammt Zeit für die RATIONALGALERIE. Fraglos ist das Online-Magazin eine Wutgründung: Wut über die wachsende Armut im Land. Wut über den Neoliberalen Unsinn in den Medien. Wut über einen das anschwellende Reformgeschwätz. Die GALERIE IST Online-Magazin, das sich in fröhlicher Opposition zur irrationalen Politik von Schröder-Fischer-Merkel-Westerwelle befand und befindet. Und außerdem eine Neigung zur Film-und Buchkritik hat. Die Menge an Rezensionen trug mir dann einen Top-Platz bei "amazon" ein. Vielleicht haben ja nicht alle auf die RATIONALGALERIE gewartet. Aber die, die nicht darauf gewartet haben, wissen nicht was ihnen entgeht. Und wenn ich Günni wiederfände, würde der sich total freuen.