Vorläufig keine Empfänge mehr, keine üppigen Buffets, Alkohol und laute Musik, das verkündete der Chef der Filmfestspiele in Antalya. Ein Zeichen wolle man setzen, an die Toten an der türkisch-irakischen Grenze erinnern, an die Soldaten, die am Tag zuvor in Gefechten gefallen waren, von denen es offiziell heißt, sie hätten im Grenzgebiet stattgefunden. Türkische Kollegen versichern, das Grenzgebiet könne auch auf der anderen Seite der Grenze liegen. Es sind die selben Kollegen, die das "Zeichen" für die Rettung des Festivals halten. Ankara sei an einer Militarisierung der türkischen Öffentlichkeit interessiert, sagen sie, man hätte zu gerne das Festival abgebrochen, aber die Leitung der ältesten Film-Präsentation des Landes sei dem mit ihrem "Zeichen" zuvorgekommen. Wer die türkischen Zeitungen liest, weiß, dass der Druck immens ist: Rache, schreien die Schlagzeilen und die Grenze soll überschritten werden, fordern sie.

Den konservativ-religiösen Kreisen in der Türkei wäre eine Schließung des Festivals auch aus anderen Gründen recht. Mit drei Filmen zu "Ehrenmorden" setzten Filmemacher und Schauspieler scharfe Akzente gegen archaische Sitten, die von Teilen der muslimischen Geistlichkeit geduldet oder unterstützt werden. Auch wenn die türkischen Gesetze inzwischen keine Strafmilderungen mehr für "Ehrenmorde" vorsehen und in den großen Städten die alten Regeln außer Kraft gesetzt sind, gilt auf dem Land noch, dass die Ehre der Familie an der Jungfräulichkeit der Töchter gemessen wird. Im Film "Hidden Faces" der Regisseurin Handan Ikpekçi, versucht eine Staatsanwältin eine vom Tod bedrohte junge Frau zu schützen und scheitert letztlich an einer familiären Verschwörung, die sich auf ein ländlich-gesellschaftliches Klima stützen kann, das mit dem türkischen Zentralstaat nicht viel zu tun hat. Immer noch wirken die Atatürk-Reformen wie ein falsch geschnittener Anzug auf dem Körper der türkischen Kleinbauern und Landarbeiter. Die von der Regierung Erdogan, in Erwartung des EU-Beitritts der Türkei, eingeleiteten Änderungen des Strafrechts müssen den selben Menschen widersprüchlich erscheinen. Denn, wo sie mit der einen Hand modernisiert, schützt sie mit der anderen Hand ein religiöses Netz reaktionärer Konventionen.

Die siebzehn Jahre alte Meryem, dargestellt von der unglaublich zarten und wandlungsfähigen Özgü Namal, wird vergewaltigt aufgefunden. Da sie nicht in der Lage, die Familie nimmt an nicht Willens ist, ihren Vergewaltiger zu denunzieren, gilt die Ehre der Sippe als besudelt. Das Todesurteil gegen die Tochter und Nichte wird ausgesprochen, vollstrecken soll es ein enger Verwandter. In einer spannenden Mischung aus Jagd und Flucht entwickeln Opfer und Täter aus ihren klischierten Rollen ein Drama über den Gegensatz von Stadt und Land, den Widerspruch von Liebe und Unterdrückung und die verführerische Kraft individueller Freiheit. Dem Regisseur Abdulla Oguz ist, trotz einer Kamera die zuweilen arg nach den Werbefilmen von Becks-Bier schielte, mit "Bliss" (Glückseligkeit) ein starkes Stück über Emanzipation in des Wortes korrekter Übersetzung gelungen. Hunderte feuchte Taschentücher und ein rauschender Beifall belohnten die Filmcrew für ihren einfühlsamen Beitrag zur Modernisierung der Türkei. Dem Komponisten, Schriftsteller und linken Politiker Zülfü Livaneli verdankt der Film die Vorlage zum Buch und eine Musik, die noch lange nach dem Verlöschen der Bilder weiter trägt.

Von Zülfü Livaneli stammt auch das auf die religiös inspirierte Regierung Erdogan formulierte Zitat: "Die Reaktionäre sind nun die Progressiven und die einst Progressiven sind heute die Reaktionäre." Misst man dies an dem Film "38", eine dokumentarische Arbeit über den Völkermord an den Zaza, einer Minderheit in Ostanatolien, von Kemal Atatürk persönlich befohlen, dann erscheint Livanelis Aussage stimmig. Einen Film zu machen und zu zeigen, der den "Vater aller Türken" als Vater eines Genozids darstellt, dass wäre vor Jahren kaum möglich gewesen. Immer noch möglich ist das Bündnis von Regierung und Wirtschaft gegen das Volk: Mit dem Film "Alethea" belegt ein türkisch-deutsches Filmteam, dass der Fortschritt mindestens zwei Seiten hat. Seit 1989 schürfen multinationale Unternehmen in der Gegend um das historische Pergamon (Bergama) nach Gold. Die dort verwendete Methode verlangt den Einsatz von Zyankali und vergiftet die Umwelt. In endlos erscheinenden Aktionen und Demonstrationen kämpfen die dort Lebenden um ihre Existenz. Sie waren sowohl vor dem obersten Gerichtshof der Türkei als auch vor europäischen Gerichten erfolgreich, immer wieder wurde entschieden, die Goldförderung zu beenden. Die verschiedenen türkischen Regierungen, die immer gerne Militär gegen die Bevölkerung einsetzten, kümmerte das alles nicht. Bis heute ist die Mine nicht geschlossen. Kopftücher bestimmten die Bilder der Protest und bestätigen so den Satz, dass Kopftücher den Kopf verhüllen, nicht das Gehirn.

Während in den Kino-Sälen des Festivals die aus Istanbul angereiste Intelligenz des Landes progressive Filme sieht, hupen auf den Straßen rundum Autos, von deren Dächern große türkische Flaggen wehen: Rächt unsere Soldaten soll das sagen, marschiert in den Irak und zeigt den Terroristen unsere Stärke. Oder, wie es ein wenig feiner die Regierung formulierte: "Die Türkei muss niemanden um Erlaubnis bitten, wenn sie die Grenze überschreiten will." Die Grenzen der Vernunft sind längst überschritten. Die Installation eines autonomen kurdischen Staates im Irak durch die USA, die heftigen Drohungen ihres Vizepräsidenten gegen den Iran, ein US-Präsident, der leichtfertig vom Dritten Weltkrieg plaudert und eine Türkei am Rande eines Krieges der zum Weltbrand werden könnte: Man kann gar nicht so viel saufen wie es schlechte Nachrichten gibt.