Zehn Jahre danach: Jeder erinnert sich daran, wo er die Bilder der Flugzeuge, die in die Twin Towers stürzten, gesehen hat. Wie in die Netzhaut eingebrannt, wie in die Erinnerung geätzt, bleibt der Terrorangriff im kollektiven Gedächtnis des Westens. Doppelseiten von Zeitungen erscheinen in diesen Tagen. Spielfilme und Dokumentationen laufen auf allen Kanälen. Beileidsschreiben aus aller Welt erreichen die USA. Im schrecklichen Ergebnis eines Tages von vor zehn Jahren werden 2.982 Tote gezählt.

Wie viel Tote der anschliessende Rachefeldzug gekostet hat ist ungenau festgehalten. So etwa 655.000 Tote rechneten die Wissenschaftler der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore aus, seien im Ergebnis des Irak-Krieges zu betrauern. Der Krieg dauert an. Rund 56.000 US-Soldaten besetzen immer noch den Irak. Das Foltergefängnis Guantanamo, im Ergebnis des Krieges entstanden, existiert nach wie vor. Auch der Afghanistankrieg, ein anderer Krieg der Rache, ist nicht beendet. Die Zahl der Toten? So präzise kennt man die bisherige Todesbilanz nicht. Gewiss ist, dass im vergangenen Jahr 2.777 afghanische Zivilisten getötet wurden. Mehr als je zuvor in diesem Krieg. Auch die Zahl ermordeter Kinder stieg, laut UNO, um 21 Prozent. An wen richtet man sein Beileid?

Die Frontlinie dieser Kriege verläuft zwischen Arm und Reich. Es sind die großen Industrieländer des Westens, die mit ihrem mörderischen High-tech-Arsenal in die armen Länder eingefallen sind und dort die Umsätze ihrer Rüstungsfabriken erhöhen. Auch die stillere Art des Sterbens, der Hungertod, findet in einem unerklärten Krieg um Nahrung statt: Im Juni 2009 berichtete die BBC von 8,8 Millionen Menschen, die jährlich Hungers sterben. Es sind die Kollateralschäden des Wirtschaftskrieges der Industrieländer gegen die Entwicklungsländer. Wo der Militärkrieg über Panzer und Raketen verfügt, rechnet der ökonomische Krieg in Export und Import: Der Anteil von Westeuropa am weltweiten Export betrug 2000 39,5 %, der Anteil von Nordamerika 17,1 %. Der Anteil Afrikas dagegen lag 2000 bei 2,3 %. Doch während im Fall des World Trade Centers die Namen der Täter bekannt sind, bleiben die Täter des Hungerkriegs im Dunkel der Vorstandsetagen.

Gern werden Kriege im Namen der Freiheit geführt. Zu dieser westlich gedeuteten Freiheit gehört unbedingt der "freie Welthandel". Frei bedeutet schlicht: Dein Markt ist auch mein Markt, mein Markt ist aber noch lange nicht der Deine. Während die Entwicklungsländer gedrängt werden ihre Importbeschränkungen aufzugeben, pumpen die Industrieländer Subventionen in ihre Agrarwirtschaft und konkurrieren so die Landwirtschaft der Entwicklungsländer zu Tode. Mexiko, der einst führende Maisproduzent in Lateinamerika, muss heute die Hälfte seines Maisbedarfs aus den USA importieren. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), eine Vereinigung der reichsten Länder der Erde, verzeichnete im Jahr 2007 365 Milliarden US-Dollar an Agrarsubventionen für ihre Nahrungsmittelindustrie.

Offiziell gibt es in den USA keine Hungertoten. Nicht einmal "Hungernde" existieren in den Vereinigten Staaten, denn deren Regierung hat semantisch entschieden, dass es nur noch Menschen mit „sehr geringer Nahrungssicherheit“ geben soll. Von dieser Sorte wurden 2005 10,8 Millionen gezählt. Die Hilfsorganisation New York Food Bank gab im Juni 2008 bekannt, dass drei Millionen New Yorker, also mehr als jeder dritte, nicht genug Geld für Lebensmittel haben. Zugleich leisten sich die USA 698 Milliarden Dollar jährlich für ihr Militär. Die Europäische Union belegt einen guten zweiten Platz mit 267 Milliarden für Kriege und Kriegsvorbereitungen. Die Frontlinie zwischen Arm und Reich hat längst die Zentren des Westens erreicht. Die schweren Verluste sind in den Gesetzen zur Einschränkung von Bürgerrechten ebenso zu besichtigen wie in den Suppenküchen oder dem Zustand von Schulen und Universitäten in den Ländern der Reichen.

Wenn die Erinnerung an die Toten des 11. Septembers 2001 irgendeinen Sinn machen soll, wenn sie mehr sein sollte als die Staffage für die Heuchelei der westlichen Eliten, dann den, einen Moment innezuhalten und auch an die vielen anderen Toten zu denken. An die Opfer des Terrors der Reichen gegen die Armen.