Vor den Türen der Habermaschen Studierstube fährt der Zug der weiteren EU-Einigung auf der Euro-Schiene: Bald werden die Finanzminister des Euro-Landes die nächste Billion vom Tender in die Lok werfen, vom Steuerzahler in die Bank, und viel Dampf und antidemokratische Bewegung erzeugen. Drinnen aber überlegt Jürgen Habermas, dass es Tempo brauche für eine Europäische Verfassung, die mehr "politische Steuerungskompetenz" enthält, also über den Lissabon-Vertrag hinausgehen müsse. In seinem Essay "Zur Verfassung Europas" weiß der Autor sehr wohl, dass dem Europa-Gebilde gemeinsame "soziale und kulturelle Rechte" fehlen. Und kritisiert deshalb gründlich jene Politik, "die vorgibt , den Bürgern ein selbstbestimmtes Leben primär über die Gewährleistung von Wirtschaftsfreiheiten garantieren zu können". Doch schon bei der Forderung nach der Präzisierung der Menschenrechte in einer zu ändernden europäischen Verfassung, gelingt im eine mediokre Formulierung von richtungsweisender Schwäche für das Gesamtwerk: "Jede Abschiebung eines Asylbewerbers . . ., jedes kenternde Schiff mit Armutsflüchtlingen . . . ist eine weitere beunruhigende Frage an die Bürger des Westens." Wo ein bescheidener Verstand geglaubt hätte, das diese Vorgänge eine Sauerei wären und den Menschenrechte feind, sieht der Philosoph erstmal Fragen.

Es ist ein Schwanken zwischen demokratischer Vernunft und feigem Kompromiss, der die jüngste Arbeit des großen Intellektuellen prägt. So auch, wenn er kühl und richtig sieht, das die Menschenrechtspolitik des Westens nicht selten nur ein Feigenblatt zur Durchsetzung von Großmachtinteressen ist und die "Kollateralschäden" beklagt, zum anderen aber seine Kritik mit einer sonderbaren Sorge bestückt: "Noch haben die intervenierenden Mächte in keinem Fall bewiesen, dass sie die Kraft und Ausdauer zum state-building . . . aufbringen." Ach, Habermas: Wenn sie diese Kraft und Ausdauer also bewiesen hätten, wäre dann der Krieg in Afghanistan gerechtfertigt? Und durch wessen Verfassung denn? Durch die unsere radikal nicht. Durch das existente Völkerrecht, das den Begriff state-building nicht kennt, auch nicht. Wenn Habermas dann die "ökonomistische Blickverengung" europäischer Politik kritisiert, wenn er von den beteiligten Regierungen sagt: "Sie zappeln hilflos in der Zwickmühle zwischen den Imperativen von Großbanken und Ratingagenturen" dann möchte man zu gern Beifall klatschen. Wäre da nicht im selben Kapitel der folgende Satz: "Ja, mit dem Lissabon-Vetrag ist die längste Strecke des Weges schon zurück gelegt."

Welcher Weg wohin? Der Lissabon Vertrag sieht keine Gewaltenteilung vor, obwohl sie das Fundament jeder Demokratie ist. Nur die EU-Kommission hat das alleinige Recht, Gesetze und Verordnungen zu formulieren. Sie wird nicht gewählt, sondern zwischen den Regierungen und den Wirtschaftsverbänden ausgekungelt. Das EU-Parlament kann bei der Außen- und Verteidigungspolitik, der Atompolitik und bei grundsätzlichen Fragen der Wirtschaft nicht mitbestimmen. Der Vertag von Lissabon erlaubt sogar zur „Konfliktverhütung“ und „Krisenbewältigung“ sogar Angriffskriege. Militärische Missionen zur „Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen“, z.B. zur Sicherung von Ölquellen, sind laut Vertag ebenfalls möglich. Und Maßnahmen zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen und der sozialen Sicherheit können nur durchgeführt werden, wenn sie die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft nicht beeinträchtigen. Das ist der Weg zu einer imperialen Macht nach außen und zu einem asozialen Weg nach innen. Der Habermas den ich zu kennen glaubte kann das nicht wirklich wollen.

Der Autor wünscht sich einen "Vorrang (des) supranationalen Rechts vor dem nationalen Recht der Gewaltmonopolisten" und grundiert diesen richtigen Wunsch mit der ebenso richtigen Feststellung, dass in einer globalisierten Weltgeselllschaft der Nationalstaat nicht allein bestehen könne und ein Staatenverband wie die EU nur Kraft gewönne, wenn die Staaten auf einer gemeinsamen, europäischen Rechtsgrundlage zusammenwirken würden. Und er geht in der klugen Beweisführung gegen den solitären Nationalstaat weiter, wenn er daran erinnert, dass sich die europäischen Staatsvölker nach fünfzig Jahren Arbeitsemigration nicht mehr als "kulturell homogene Einheiten imaginieren" lassen. Auch und gerade wenn Habermas fordert, die anzustrebende Union müsse die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" leisten und den Artikel 106 des Grundgesetz in die Debatte einbringt, ist seine Vorstellung von einem wirklich geeinten Europa höchst sympathisch.

Mit wem Habermas seine Vorstellungen einer besseren Verfassung von Europa durch- und umsetzen will, darüber schweigt er. Hie und da beschwört er "Eliten", und wenn er erinnert , dass sie die Union bis zu heutigen Schwelle geführt haben, dann weiß man auch wen er meint: Jene Mischung aus Politkern und Bürokraten, die an der Schaffung eines pazifierten Europas ebenso beteiligt waren, wie an der Entwicklung von dessen sozialer Schieflage. Dass der wesentliche Konstruktionsmangel eines geeinten Europas in seiner Überstülpung über die Völker liegt, dass den immer weniger an Entscheidungen beteiligten Wahlbügern, in der Banken-Krise brutal deutlich, nicht einmal eine Volksabstimmung über ihre Verfassung gegönnt wird, das ist im Habermaschen Buch nicht zu lesen. Doch sicher gilt: Wer die Völker zur Entwicklung Europas nicht befragt, der wird letztlich kein Europa der Völker erreichen sondern beim jetzigen Verbund der Bürokraten und Lobbyisten stehen bleiben.