Ein typisches Mischvolk wie die Deutschen, das besonders in seiner östlichen Zusammensetzung von Wenden, Kaschuben, Polen und einem Schuß Niedersachsen niemals eine einheitliche germanische Rasse bildete, hat keinen Grund, über Rassenvermischung zu schelten. Und das vor allem deshalb, weil die Deutschen weniger die Fehler der Juden, als die assimilierten Juden germanische Untugenden angenommen haben.
Kurt Tucholsky
Da ist sie nach dem großen Krieg gerade zurückgekommen, die Familie Seligmann, aus Israel, wo sie nicht hat Fuß fassen können, zurück in das Land, das viele ihrer Verwandten ermordet hatte, und vom ersten deutschen Geld schenkt der Vater dem kleinen Rafael eine Märklin Eisenbahn: Zum Heulen deutsch. Zum Heulen deutsch wird Rafael Seligmann - der anfänglich nur Iwrit sprach und schrieb - werden und bleiben: Einer, dieser Durchschnittsdeutschen, weitgehend mit seinem Land zufrieden, ein Historiker, der in seiner nun vorliegenden Autobiografie sagt, dass dem Reich "die Verträge von Versailles aufgezwungen waren". So, als ob das Kaiserreich nicht zuerst einen Weltkrieg begonnen hätte. Einer, der im überkorrekten Deutsch sagt, er habe mal "dem Hasch zugesprochen". So, als hätte er es nicht einfach geraucht. Einer, der nur knapp an der CDU-Mitgliedschaft vorbeigeschrammt ist und bis heute die "Nachrüstung" verteidigt. Obwohl das Pentagon mit seinen Pershing-Atomraketen ein neues, atomares Schlachtfeld eröffnen wollte und den kalten Krieg in die Nähe des heißen rückte.
Noch heute staunend geht der kleine Rafael im Rückblick durch ein Deutschland, das ihm versichert, er sei "in Ordnung. Aber die anderen Juden, das ist ein Pack, die gehören weg." Wohltemperiert schildert er eine Schulzeit, im München der 60er Jahre, in der Hitler noch rückwirkend verehrt wird. Immer noch milde den Kopf schüttelnd, glaubt er "Bubis (der Vorsitzende des Zentralrates der Juden) drohte ins Abseits zu geraten", weil der sich gegen den Schriftsteller Walser wandte, der Auschwitz als ein "Einschüchterungsmittel oder Moralkeule" bezeichnete. Als wäre der deutsche Judenmord zuerst ein Mittel und erst dann ein Jahrhundertverbrechen. Das West-Deutschsein geht dem Autor bis in die posthume Beleidigung des Schriftstellers Arnold Zweig, den er als "jüdisches Feigenblatt" für die DDR bezeichnet. Falls Seligmann das Werk Zweigs, unter anderem den genialischen Roman "Der Streit um den Sergeanten Grischa" gelesen haben sollte, hat er es nicht begriffen.
Aber Seligmann ist nicht ohne Einsicht. Die klarste gelingt ihm, wenn er feststellt, dass heute die Türken die Juden sind. Das kann ihn Freunde kosten. Auch wenn er den Sinn der israelischen Kriege, von ihren unfriedlichen Enden ausgehend, in Zweifel zieht, liegt er außerhalb der deutschen Norm. Sein erheblicher Zweifel an den jüdischen Siedlungen im Palästinenserland oder die Frage nach dem Sinn des Afghanistankrieges weisen ihn als nachdenklichen Menschen aus. Aber wenn er dann den Hitler aus der Angst der Deutschen vor der Moderne erklärt, also aus der Massenpsychologie und nicht aus der Interessenlage der deutschen Industrie, dann hätte er besser geschwiegen. Denn die Suppenküchen der SA, beste Werbung für die Schlägertruppe, finanzierte der Thyssen-Konzern, Hitler legte unter Beifall der Industrie seine Pläne vor, im "Freundeskreis Heinrich Himmler" saßen die schwerreichen Finanziers der braunen Bewegung. Dass zumindest könnte der Historiker Seligmann wissen.
Das heiterste Kapitel, über das ganze Buch verstreut, müsste Seligmann und die Frauen heißen. Wie in einem Herbarium sind die Damen des Schriftstellers in der Autobiografie zwischen die Seiten gepresst: Ob blond ob braun, er liebte alle Fraun. Nicht, dass die Frauen in seinem Buch eigene Farbe gewönnen. Sie sind einfach da. Für den Autor. Wann immer er sie gerade braucht: Trösterinnen, Bettwärmerinnen, Anschwärmerinnen. Einmal, als er an eine Frau gerät, die ihre Interessen durchsetzen will und nicht die seinen, entfährt dem Schriftsteller eine harsche Kritik an der Dame: "Ich verhielt mich derart still . . . dass ich nicht einmal wagte im Schlaf zu furzen." So bleibt dem Rafael Seligmann zum Schluss zu attestieren: Er ist deutsch, bis in den Schlaf.