88 Jahre ist sie geworden, und bis zuletzt hat sie weitergearbeitet an ihrem unvollendbaren Projekt, die Ungereimtheiten, "Denkwürdigkeiten" in der Existenz der menschlich genannten Wesen auf diesem dritten Planeten der Sonne aufzuspüren. Seit dem einzigen Bruch in ihrem Schreiben, der Verabschiedung aus den Gewissheiten des Sozialistischen Realismus ("Deshalb leben wir" u. ä.), hat sie mit den schmalen Bändchen, die sie alle paar Jahre veröffentlicht hat, 12 Stück von 1957 bis 2007, ihre Leserinnen und Leser in den leichten Schwindel versetzt, in den unsere Köpfe verfallen, wenn sie auf Fragen gestoßen werden, die sie nicht bündig beantworten, aber auch nicht abweisen können.
Wie hat der Mensch, das "soziale" Wesen, seine Wendung "von jedem zu alle" hingekriegt? (Hat er es?) Wer mag das sein, und wie beschaffen, der uns so abhanden kommen wird, wie wir den Tieren "abhanden kamen"? Was bewegt sich im Kopf eines Terroristen in den letzten vier Minuten, ehe seine Bombe hochgeht? Welche Erwartungen haben die Angehörigen auf das lebenspralle kleine Geschöpf gerichtet, das uns ein Babyfoto von Hitler zeigt? Welche verdrehte Freude leistet sich das poetische Ich, wenn es tötbare lebende Wesen auf dem Papier, in der schieren Möglichkeitsform, "noch" leben lässt? Welchen Dienst leistet es den Opfern des 11. September, wenn es ihren verzweifelten Sprung aus dem Fenster beschreibt und den letzten Satz nicht hinzufügt? Was nimmt sich Hiroshige heraus, wenn er die Menschen über die Brücke laufen und nie vorwärts kommen lässt, als ob eigens für sie die Zeit angehalten würde? Wieso ist das, was ist? "Ein Wunder, sowie man sich umsieht:/ die allgegenwärtige Welt." "Ein zusätzliches Wunder, wie alles zusätzlich ist:/ was undenkbar ist,/ ist denkbar." Und was das Rätsel "Seele“ angeht, die Menschen immer wieder (und was für welche) sich zuschreiben: "Es sieht danach aus,/ dass so wie sie uns / ebenso auch wir / ihr zu etwas nötig sind"“
Szymborska versetzt alles Sichtbare, alles Denkbare, alle Hoffnungen von Menschen in den Konjunktiv, ruft sie in den Prüf- und den Zeugenstand, setzt sie Fragen aus sämtlichen Kapiteln der Syntax und der Semantik aus. Die aufrührerische Frechheit von Heines Fragelust, der noch den mit der letzten Handvoll Erde gestopften Mund wieder aufreißt und mit den harten Knacklauten des Juden fragt: "Aber ist das eine Antwort?", ist auch anderthalb Jahrhunderte später unerschöpft. Sie regt sich ebenso beweglich, ebenso obstinat, nur noch ausschweifender und findiger. Wisława Szymborska kultiviert sie zu einer Frage-Kunst - einzig dieses Wort schien mir dem Kosmos ihrer Gedichte angemessen. Da sie dabei eine ausgesprochene "Freude des Schreibens" pflegt und ihre Leserinnen und Leser daran teilhaben lässt, lädt sie auch ein zu einer Freude des Fragens. Und das im schönsten und bei alldem fast ganz alltäglich klingenden Polnisch.
Mit dem Tod stand sie seit langem, so viele sind ihr weggestorben, auf vertrautem Fuß. Und doch suchte sie seine vermeintliche Allmacht durch eine schlichte, mutwillige Gegenrechnung zu untergraben. Alles was lebt, von den "Skeletten" in den Säuglingen an bis zu hohen Bäumen am Horizont, ist ein Beweis, dass der Tod immer wieder zu spät kommt, mit seiner mühseligen Arbeit gar nicht nachkommt. "Selbst unser Beitrag durch Kriege und Umsturz / hat, bis jetzt, nicht ausgereicht." ("Über den Tod ohne Übertreibung"). Jetzt hat er sie eingeholt. Jetzt wird wohl ihr patenter Sekretär, ein Eckermann de luxe, noch einmal durch ihre Wohnung in Krakau streichen und sich das eine ihrer Lieblingsgedichte durch den Kopf gehen lassen: "Sterben, das tut man einer Katze nicht an."
Wisława Szymborska starb am 1. Februar 2011 in Krakau.