Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst Du nur das Zauberwort.
Eichendorff, 1835
Der Schriftsteller Ingo Schulze kommt aus der DDR-Opposition. Das war jene Gruppe von Menschen in der DDR, die besonders sensibel auf die öffentliche Phrase reagiert hatten, die sich über die permanenten "Erfolge" in den Medien bitter amüsierten, wo sie doch eine andere Wirklichkeit im Land sehen konnten, für die "Freiheit" ein großes und "soziale Sicherheit" eher ein kleineres Wort gewesen war. Als dann der Westen über sie kam, begrüßten sie ihn: Versprach er doch die ersehnte Freiheit und immer und überall ausreichend "Waren des täglichen Bedarfs" und auch noch ein wenig mehr. Leute wie Schulze sind, so sie denn ihre kritische Haltung beibehalten haben, höchst wertvolle Mess-Instrumente für den Stand von Demokratie, gesellschaftlicher Phrase und des sozialen Gleichgewichtes im nun vereinten Land. Ingo Schulze hat ein Traktat geschrieben, das sich mit "Unseren schönen neuen Kleidern" auseinandersetzt und sich "Gegen die marktkonforme Demokratie" wendet. Ingo Schulze gehört mit diesem schmalen und zugleich reichen Band in den Schulunterricht. Und an die Universitäten. Und gäbe es eine Demokratiebesserungsanstalt, nach deren erfolgreichem Besuch dann der Wahl-Führerschein ausgegeben würde, müsste sein Buch ebenfalls zum Lehrstoff gehören.
Einmal, als der Dichter Schulze bei einer Lesung in Portugal entdeckte, dass er sich plötzlich als reicher Deutscher begriff, der sich durch einen Rettungsschirm von den armen Portugiesen angebettelt fühlte, als es ihm vor sich selbst ekelte, als er "förmlich das Zeitungspapier zwischen meinen Lippen rascheln" hörte, reicht der Schock der Selbsterkenntnis so tief, dass er begann das Spiel zu erkennen: Das Spiel, in dem arme Länder gegen reiche Länder ausgespielt werden, in dem West gegen Ost gehetzt wird und in dem der "Sachzwang" regiert. Jene Metapher, die seit Jahr und Tag zu "alternativlosen Entscheidungen" führt. Und genau davon wollte er sich emanzipieren.
Auf dem Weg zur Emanzipation fragt Schulze - wie das Kind in Andersens Märchen, das den Kaiser in seinen neuen Kleidern als Nackten entlarvt - welchem Sachzwang wir es denn verdanken, dass immer mehr Menschen immer weniger Rente bekommen, dass zeitgleich in den letzten fünfzehn Jahren die Unternehmenssteuern halbiert wurden und warum sich die Öffentlichkeit dann über leere öffentliche Kassen wundert. Auf diesem Weg findet er heraus, dass er eigentlich am Diskurs nicht teilnehmen dürfte: Denn er will immer noch nicht den Profit "Sharholder Value" nennen, er versteht es nicht die Kürzung der Arbeitslosenhilfe als "Anreiz für Wachstum" zu bezeichnen und wenn er hört, dass "die Sozialsysteme entrümpelt" werden sollen, freut er sich nicht über ein schön aufgeräumtes System, es jagt ihm Angst ein. Nach den vielen Falschwörtern, Begriffe die den eigentlichen, brutalen Sinn verschleiern sollen, begibt sich der Autor auf die Suche nach den Zauberworten, die in den Dingen leben. Er findet erst mal weitere Fragen. Warum zum Beispiel denn Demokratie nicht mit gesellschaftlichem Eigentum an Produktionsmitteln vereinbar sein sollte und jene Frage, warum denn die DDR-Verschuldung von rund 1.000 Euro pro Kopf als ein klarer Beweis für die Unfähigkeit des Systems gilt, während die Pro-Kopf-Verschuldung des vereinigten Deutschland, die bei 24.700 Euro liegt, tja, auf was denn eigentlich hinweist?
So landet der kluge Schulze, Schritt für Schritt bei einer wichtigen, gewichtigen Erkenntnis: Bei seinen eigenen Interessen, jenen Beweggründen, die er mit Millionen teilt und die zunehmend seltener zur Geltung kommen: "Es braucht, " schreibt er, "Vertreter, für die Freiheit und soziale Gerechtigkeit untrennbar voneinander sind." Und er zitiert auch ein schönes Beispiel, wie es ganz ohne Vertreter geht: Als in Berlin eine Bewegung von Unten sich gegen den Widerstand des "gesamten demokratischen Apparates" durchsetzen musste, um endlich den Wasserpreis zu senken. Das allerdings findet Schulze "niederschmetternd". Mir erscheint es eher hoffnungsvoll. Denn auf Dauer werden es nicht die Apparate sein, die irgendetwas grundsätzlich bessern, sondern die Bewegungen. Aus diesem Analyse-Unterschied speist sich wohl auch Schulzes noch im Mai dieses Jahres formulierte Hoffnung, dass die SPD seine Gedanken aufgegriffen hätte. Wer die servile Zustimmung der Sozialdemokraten zu diesem, jenem und dem nächsten Rettungsschirm beobachtet, weiß, dass noch so viel sozialdemokratisches Papier eben nur raschelt, aber nichts ändert. Eins allerdings bleibt dem Dresdner Dichter aus der Wendezeit in bester, aktueller Erinnerung: "Wir brauchen den Ruf: `Wir sind das Volk´nur aus dem Museum zu befreien."