In Berlin steht eine Mauer
Trudirabaridibum
Gegen Brandt und Adenauer
Trudirabaridibum
Die wirft keiner um
Wolf Biermann, 1961
Das ist lange her, als der Westen den Osten besuchte und der Osten sich darauf freute, in den Zeiten der Sehnsucht, wie Jutta Voigt es in ihrem neuen Buch "Westbesuch" beschreibt. Heute ist in Deutschland überall Westen, beinahe. Und die Sehnsucht, wenn einer denn noch eine hat, gilt anderen Ländern, anderen Leben. Denn so ist es mit den Fern-Reisewünschen (und ferner als die Bundesrepublik war für den DDR-Bürger kaum ein Land): Man will raus aus seiner Existenz, rein in die der anderen. Und sei es auch nur für ein paar Wochen: Spanier sein oder Nordamerikaner. Manchem reicht schon eine Pizza, scusi, um des fernen Geschmackes willen. Wer aber eine Latte bestellt, der bestellt nicht Italien, der bestellt das scheinbar bessere Leben. Auch das lieferte der Westen: Die bunten Verpackungen, die schickeren Autos, die West-Jeans, das Abzeichen von Weltläufigkeit, selbst nach Lauchhammer oder Neubrandenburg.
"Dass mit dem Sozialismus die Menschheit", zitiert Jutta Voigt, "aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" springe, hatte Friedrich Engels prophezeit. Der Sprung misslang. Und weil das so war, gab es die vielen Fluchten, von denen die Autorin beklemmend genau berichtet. Dem einen fiel die Langeweile der DDR auf den Kopf und er machte rüber, alles riskierend. Die anderen liessen sich von den Verwandten mit "Mon Chérie" im Westpaket, ohne sonderliche Gefahr, ein scheinbares Stück Frankreich in die Stube kommt: "Die Dinge von drüben ermöglichten Millionen kleiner Grenzübertritte", schreibt Jutta Voigt. Nicht aus der Position derer, die es zwanzig Jahre danach besser wissen. Sie war dabei, so oder so. Sie kann sich noch an ihre eigene Begeisterung für den Sozialismus erinnern und zugleich daran, wie sie einmal in Paris war und vor Sehnsucht nach diesem exotischen, pariserischen Leben beinahe gestorben wäre. Das macht ihren Blick aus: Unbestechlich nah und zugleich fern genug, um den Tellerrand nicht für das Ende der Welt zu halten.
Das mag heute schwer vorstellbar sein, diese Gier einmal die Zugspitze zu sehen und zu glauben, weil man ja zurück fuhr in die DDR: "Merk´s dir, merk´s dir, du siehst es nie wieder." Oder das Gefühl von dem, der sich extra einen dicken Mercedes leiht, um die Ostverwandten damit zu besuchen und zu beeindrucken. Vielleicht fahren ja auch heute noch manche in die armen, fernen Länder, weil ihnen det hebt. Vom Gefühl nur der Beschenkte zu sein, nicht gleichwertig, weiß Jutta Voigt zu erzählen, und es war kein gutes Gefühl. Und sie schreibt auf, wie diese Einbahnstraßen sich im Nichts verloren, als die Mauer fiel. "Das Ende der Besuchszeit war das Ende einer Amour fou", das war, ist gewesen. Wer wollte heute noch den Westen wie verrückt lieben? Vor dem Hintergrund historischer und politischer Wirklichkeit, sieht die Autorin ein Rollenspiel und kommt so der Wahrheit ziemlich nahe. Während die öffentlich behaupteten Gewissheiten über die DDR mit jedem Jahr strikter und falscher zugleich werden, während die wirklichen Biografien der DDR-Bürger immer stärker in den Schatten einer Stasineurose geraten, und wenn einst das "Neue Deutschland" die DDR erklärte, machen es jetzt wahlweise Guido Knoop oder Hubertus Knabe.
Sie kramt in ihrem Gedächtnis, in Akten, redet mit den Leuten, die Autorin, und fand damals den Westen in Polen, wann immer es ging: "ich kann es nicht fassen, dass das ein sozialistisches Land sein soll", schreibt sie und freut sich über polnische Plakate, Filme, ja sogar über die routinierte Hingabe, mit der der Katholizismus absolviert wird. Sie findet die Frau aus der DDR, die dem Westmann in ein Kaff bei Bonn folgt und nach acht Wochen wieder zurück geht, und auch den Westmann, der Bürger der DDR wird und dann, nach genau den zwei Jahren, die er hier verbringen wollte, wieder nach Leverkusen zurück fährt. Sie hört die Namen der Enricos und Vanessas, wissend, das in ihnen der Wunsch nach den fernen Ländern atmet, so wie heute, in Ost und West, die Dianas und Kevins die fernen Traumfiguren widerspiegeln. Sie hat das Auge und das Ohr, ihrem Kopf entgehen die Zitate nicht: "Den einen droht, sich zu Tode zu amüsieren, den andren, sich zu Tode zu langweilen (Peter Bender über die Deutschen in West und Ost).
Manchmal gelingt es der Voigt Geschichten zu erzählen, die muss sie erfunden haben. Wie die von dem befreiten Käfighuhn, dass sein Besitzer als ein Gleichnis auf die Karriere von Angela Merkel begreift: Kaum hatte er das Tier aus dem Käfig befreit, schon dominierte es seine frei laufenden Hühner. Zum Brüllen komisch und vielleicht doch wahr. Und dann wieder erzählt sie tieftraurige, wahre Geschichten darüber, wie Freundschaften in die Brüche gehen, über das Ostige und Westige, wie man sich nach dem Fall der Mauer noch weniger begreift als zuvor. "Wir sind am selben Bahnhof eingestiegen und fahren auf verschiedenen Gleisen zur Endstation Sehnsucht", überlegt sie laut und lässt den Zug Geschichte fahren, ahnend: Man müsste den Fahrplan schon selber machen, um dort anzukommen wo man hin will.