Unsere Autorin lebt und arbeitet in Vendedig.

Wenn Venedig stirbt...  so die Schlussfolgerung des Autors am Ende seines Pamphletes - wenn Venedig stirbt, dann stirbt die eigentliche Idee von Stadt als offener und vielfaeltiger Raum sozialen Lebens, Grundlage fuer Zivilisation und Demokratie.
Um letzteres geht es. Salvatore Settis legt kein neues Buch ueber Venedig vor, sondern  der hochengagierte Kunsthistoriker und Archaeologe vereinigt einige seiner juengsten Vortraege zu einer "Streitschrift gegen den Ausverkauf der Staedte". Das ist im Italien der urbanen Vielfalt mit seiner einst beispielhaften Stadtkultur ein hochaktuelles Thema, angesichts sogenannter Modernisierungsprojekte und einer zunehmend kommerziellen Valorisierung historischer Bauten bei grassierender Immobilienspekulation inmitten touristischer Monokulturen.

Staedte als komplexe lebendige Konstrukte setzten sich ueber Jahrhunderte aus Steinen und Menschen, aus der Stadtbevoelkerung und ihren Lebensbedingungen zu historischen Erfahrungsraeumen zusammen. Verschwinden letztere, Settis nennt das post-antike Athen als Beispiel, geht das einher mit einer kollektiven Amnesie, und wie bei Menschen, die ihr Gedaechtnis verlieren, auch mit dem Vergessen der eigenen Wuerde.
Hauptthema von Settis' Betrachtungen ist also die Unterwerfung auch der Stadtentwicklung unter die zunehmend zerstoererischen Bedingungen der neoliberalen Oekonomie, die die Beduerfnisse der Mehrheit der Menschen und eben auch der Stadtbewohner ignoriert, deren Anzahl heute bereits auf mehr als die Haefte aller Erdbewohner gestiegen ist.

Settis beschreibt den Wandel der Stadt vom hoechsten Kulturprodukt unserer Zivilisation, Wiege buergerlicher Werte und Demokratie, hin zur exorbitanten Megalopole, in der sich Abermillionen Menschen zusammendraengen bis in weit ausufernde Bidonvilles "im Namen von Produktivitaet, geblendet von der Illusion des sozialen Aufstiegs oder um des nackten Ueberlebens willen". Als Beispiel fuer diesen vor allem ausserhalb Europas rapide voranschreitenden Trend nennt Settis u.a.das chinesische Chongqing, das von 600.000 Einwohnern um 1930 auf inzwischen 32 Mio. anwuchs. Auch in europaeischen Staedten sind Tendenzen zur Anpassung an die konsumgesteuerte Produktionsmaschinerie (Wolkenkratzer, Stadtautobahnen, Satellitenviertel, Schlafstaedte) in vollem Gange.

Die in einem zunehmend deindustrialisierten Italien errichtete glamouroese Hochhaus-Kulisse im Zentrum Mailands, fuer die Expo 2015, stellt jedoch laut Settis keinen "verspaeteten Triumph der Moderne, sondern ihre Fiktion" dar, die keinen Wachstumsprojektionen entspricht. Und die Typologie des Wolkenkratzers ist auch anderswo in Italien dabei, sich losgeloest von Raumentwicklungsplaenen durchzusetzen. Selbst im sich entvoelkernden Venedig ist ein 250 m hoher Riesenturm angedacht (der vom neugewaehlten Buergermeister der Stadt als positiver "moderner" Impuls gesehen wird, ebenso wie die schwimmenden Hochhaeuser der Kreuzfahrtungetueme / Anmerkung der Rezensentin). Settis sieht in diesem Gigantismus einen "Fetisch des Kapitalismus (...) reproduzierbar als das architektonische Gesicht eines schrankenlosen Neoliberalismus", dessen oekonomische Hintergruende und soziale Folgen ausgeblendet und verschleiert bleiben und folglich als "naturgegeben" erscheinen.

Als Gegenbild zur Megalopolis erscheint die Stadt Venedig als verborgenes Urbild aller Staedte, von denen der Erzaehler, Marco Polo, in Italo Calvinos "Unsichtbaren Staedten" dem Gross-Khan  berichtet. Ihm folgend ist auch fuer Settis der mehr als tausendjaehrige Stadtkomplex in der Lagune, als vollendeter Ausdruck der engsten Symbiose von Natur und Kultur, das Sinnbild fuer alle Staedte und gilt als Paradigma der historischen Stadt ueberhaupt. Und er tritt ein fuer eine neue Betrachtungsweise der Altstadt-Problematik, bei der Fortschritt und Konservierung bisher als unueberbrueckbare Gegensaetze gelten. Settis schlaegt die Realisierung von Alternativen zum fortschreitenden "Einheitsgedanken, der auf der ganzen Welt ein einziges Modell identischer Neustaedte durchsetzen will" vor. Venedig ist dabei ein Pruefstein im bestehenden Aufloesungsprozess seiner 'forma urbis' die - verdeutlicht durch den immer bedrohlicheren Bevoelkerungsschwund - mehr und mehr zu blosser Residualexistenz verurteilt scheint, zur passiven Kulisse des Tourismus (nur noch 56.000 Einwohner in der Altstadt bei ca. 34 Mio. Besuchern pro Jahr).

Es geht fuer das Ueberleben Venedigs also nicht um die Konservierung von Vergangenem oder das Auskosten des Jetzt durch immer neue Events, sondern um die Reaktivierung einer taetigen Buergerschaft, die "den Vorrang des Gebrauchswertes der Stadt ueber den Tauschwert stellt". Es geht um das "Recht auf Stadt", d.h. auch "um das Recht junger Menschen auf eine kreative Arbeit, auf Wohnung und auf eine Zukunft". Und Settis schliesst dabei die "Neuitaliener" ein, die aus vielen Weltteilen kommen und ein anderes Bewusstsein entwickeln koennen, als das, was der "truegerische Kosmopolitismus der ueber Venedig hereinfallenden Touristenhorden" suggeriert. Damit stellt der Autor allerdings eine gesellschaftspolitische Forderung, die ueber die Stadtproblematik weit hinaus und die Italien und ganz Europa angeht.
Wie z.B. der Fall MoSE (das umstrittene und korrupte Mammutprojekt zum Schutz vor dem Hochwasser) zeigt, dienten gerade die Umwelt-Probleme Venedigs als Vorwand fuer einen vorgeblichen "Kulturschutz", der gigantische Raubmechanismen deckt, die auch in anderen "Grossprojekten" Italiens weiterhin am Werke sind. Einige der Verantwortlichen stehen nun vor Gericht, aber ihr System scheint ungebrochen. 

Umso notwendiger erscheint es, die Dimension der Erinnerung an ein "Anderes" zu bewahren und weiter zu entwickeln, deren Gefahr fortschreitenden Verschwindens inzwischen das gesamte menschliche Zusammenleben bedroht: "Es raubt der Gegenwart den Atem und gefaehrdet die Zukunft".