Es ist sehr schwer zu sagen, was mit der Reformation, was mit der Freiheit des deutschen Reiches wohl geworden sein würde, wenn das gefürchtete Haus Österreich nicht Partei gegen sie genommen hätte.
Schiller, Geschichte des dreißigjährigen Krieges /1/

Mit Bezug auf historische Ereignisse, vor allem verlorene Kriege, war die fruchtlose Frage „Was wäre, wenn …“ bei alten Leuten zu allen Zeiten sehr beliebt. Beispielsweise der Ostrentner von heute, zumal wenn er mit der Mindestrente gestraft ist, zermartert sein Gehirn mit der Frage: „Was wäre, wenn der Sozialismus gesiegt hätte?“

Soviel ist sicher, ohne den Dreißigjährigen Krieg wäre viel literarische Geschichtsschreibung verloren, von Friedrich Schiller bis Golo Mann, und ein Roman ersten Ranges, Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausens „Abentheurlicher Simplicius Simplicissimus Teutsch“, der die Gräueln dieses endlosen Kriegs bleibend in das Bewusstsein entfernter Generationen gehoben hat.

Der kaiserliche Feldherr Tilly verwüstete 1631 Magdeburg weit effizienter, als das entsetzliche Bombardement am 16. Januar 1945, das die Stadt zu 65 Prozent zerstörte.
In der grauenvollen Schlächterei kamen die meisten Bürger um. Es retteten sich nur vierzehnhundert, die sich in dem Dom eingeschlossen hatten und von Tilly begnadigt wurden. Den Metzeleien folgten die Feuersbrünste. Von allen Seiten stiegen die Flammen empor, und nach wenigen Stunden bildeten Bürgerhäuser und öffentliche Gebäude nur noch einen einzigen Aschenhaufen. Aus dem allgemeinen Brand rettete man kaum hundertundvierzig Häuser. Zwölfhundert Mädchen ertränkten sich, so wird erzählt, um ihre Jungfräulichkeit zu bewahren./2/
Der beutegierige Söldner jener Tage, der in der Freizeit raubte und mordete, folterte und schändete, er galt als Abschaum der Menschheit. Von da war es ein weiter Weg bis zu dem geduschten Helden von heute, der für einen schmalen Taler am Hindukusch die Demokratie verteidigt, den Schlaf der Witwen und Waisen behütet und über die Mohnfelder wacht.

Es ist fast vergessen, dass weite Gebiete des Heiligen Römischen Reichs im Dreißigjährigen Krieg einem Genozid nahe gekommen sind. Die deutsche Bevölkerung sank auf ein Drittel. In der Mark Brandenburg soll nur ein Fünftel der Einwohner Ausmordung, Hungersnot und Seuchen überlebt haben. Die Dörfer erkannte man nur an Aschehaufen, die kein Grün mehr aufkommen ließen, und die Städte nur noch an Schutt und Ruinen./3/ Noch heute finden sich Wüstungen aus jener Zeit.
Ein Printmedien-Gourmet behauptet gar, die Bedeutungslosigkeit der deutschen Küche sei auf den Dreißigjährigen Krieg zurückzuführen. Wahrscheinlich beruht die Jämmerlichkeit der englischen Küche auf den Rosenkriegen.

Im Zeitalter der Nouvelle Cuisine, der kleinen Portionen also, ist die kürzere Erstausgabe des „Simplicius Simplicissimus“ sehr beliebt. Heinrich Kurz, einer der Wiederentdecker Grimmelshausens, gab seinerzeit auf unrichtiger Werthung der alten Ausgaben beruhend,/4/ die erweiterte Letztfassung heraus. Seitdem rankt sich ein hohles Germanistengezänk darum, welches die echte, die originale Version sei. Beide haben ihren Wert.

Die älteren Neudrucke verwenden gebrochene Schriften. Diese Schriftarten – Gotisch, Schwabacher und Fraktur – wurden durch Hitler verboten/5/ und haben seitdem nicht wieder ihren Weg in die Lehrbücher der Schulen gefunden. Deshalb ist die Mehrzahl unserer LeserInnen auf Drucke in lateinischer Schrift angewiesen.
Auch ist uns die mundartlich gefärbte barocke Sprache Grimmelshausens mittlerweile so fremd geworden, dass eine Übertragung in modernes Deutsch angebracht scheint, um den Roman in flottem Tempo konsumieren zu können.

Reinhard Kaiser hat sich dankenswerterweise die Mühe gemacht und eine Übersetzung der Erstausgabe geliefert. Er benützt als Vorlage die von Dieter Breuer in den neunziger Jahren herausgegebenen Werke Grimmelshausens/6/ und die Reclamausgabe. Doch auch ältere Ausgaben verfügen über vortreffliche Kommentare, die zweckmäßig in die Bearbeitung hätten einfließen können. So ist zum Beispiel S. 178 vom Scholderer die Rede. Wer weiß noch, dass damit der Bankhalter im Glücksspiel gemeint war? Der Gefreite auf S. 272 wird in den Anmerkungen als unterer Mannschaftsdienstgrad erklärt. Tatsächlich bedeutete ein Gefreiter zu sein damals vor allem die Befreiung vom anstrengenden Wachdienst. Auch die Übersetzung von Liberei mit Livree (Bedienstetenuniform) auf S. 274 ist problematisch. Hier sind wohl eher die Farben des Regiments gemeint, in die der Musketier Simplex seine Knechte kleidet. Aber solche Kleinigkeiten können die stolze Leistung Reinhard Kaisers als Ganzes nicht schmälern. Außerdem ist der Text mit Anmerkungen und einem informativen Nachwort versehen und durch ein Register erschlossen.

Der „Simplicius Simplicissimus“ darf als der erste deutsche Antikriegsroman gelten. Der Autodidakt Grimmelshausen verarbeitete in ihm und den nachfolgenden „Simplicianischen Schriften“ seine Kriegserlebnisse. Er diente etwa seit seinem zwölften Lebensjahr bei verschiedenen Armeen, war also nach heutigen Maßstäben Kindersoldat. Erlebtes und Gehörtes hat er zu dem beeindruckenden Panoptikum einer in Trümmer sinkenden Welt verwoben. Nach mannigfachen Schicksalen endet sein Held als Eremit auf einer einsamen Insel.
Grimmelshausen selbst, geboren im Dreißigjährigen Krieg, sollte nach einem arbeitsamen Leben für den Wiederaufbau des total zerstörten Landes als Soldat in einem weiteren Krieg sterben, nämlich dem Ludwigs XIV. gegen das Reich.

Wer nach der flüssigen Lektüre des Kaiserlichen „Simplicissimus“ Lust auf das Original verspürt, dem sei die antiquarische Monumentalausgabe/7/ Franz Riederers empfohlen. Da hat man die simplicianischen Schriften beinahe komplett und noch ein Grimmelshausen-Lexikon dazu! Riederer gibt den diplomatisch genauen Abdruck der Textausgabe von Heinrich Kurz mit worterklärenden Fußnoten, allerdings in Frakturschrift. Leider fehlt das „Ratstübel Plutonis“, das sich in der vierbändigen Strellerschen Werksausgabe/8/ findet, die in der DDR erschien. Sie ist leichter lesbar, weil orthografisch normalisiert und in lateinischer Schrift gedruckt, bietet ebenfalls in den Fußnoten Worterklärungen und zusätzlich Anmerkungen.
Diejenigen unter unseren LeserInnen, die der Fraktur mächtig sind oder bereit, sie zu erlernen, können auch die künstlerisch ausgestattete, ebenfalls orthografisch bearbeitete Simplicissimus-Ausgabe Engelbert Hegaurs/9/ benützen. Man sieht, an guten Drucken herrscht kein Mangel.

Reinhard Kaiser zitiert in seinem Nachwort (S. 734 f.) aus dem Vorwort Thomas Manns zur ersten schwedischen Übersetzung des Romans, erschienen 1944:
Es ist ein Literatur- und Lebensdenkmal der seltensten Art, das in voller Frische fast drei Jahrhunderte überdauert hat und noch viele überdauern wird, ein Erzählwerk von unwillkürlichster Großartigkeit, bunt, wild, roh, amüsant, verliebt und verlumpt, kochend von Leben, mit Tod und Teufel auf Du und Du, zerknirscht am Ende und gründlich müde einer in Blut, Raub, Wollust sich vergeudenden Welt, aber unsterblich in der elenden Pracht seiner Sünden. Europa ist heute wieder in der rechten seelischen Verfassung für dieses Buch. Es bildet dafür eine große erfahrene Lesegemeinde.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Anmerkungen
/1/ Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Cotta 1838, Bd. 9, S. 15
/2/ Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg. Die Werke Friedrichs des Großen, Reimar Hobbing Berlin, 1913, Bd. 1, S. 45
Der Skeptiker Friedrich fügt hinzu: Aber das gehört unter die Märchen, die zu Herodots Zeit mehr Aussicht auf Erfolg hatten als in der unseren.
/3/ Ebenda, S. 55
/4/ ADB, Bd. 9, S. 699 (Verf. Adalbert v. Keller)
/5/ Geheimerlass vom 3. 1. 1941, mit einer in allen Einzelheiten falschen und geradezu lächerlichen Begründung („Schwabacher Judenlettern“) Süß, Deutsche Schreibschrift, Knaur 2003, S. 10
/6/ Vgl. Kaisers Simplicissimus-Bearbeitung, S. 739, Literaturhinweise
/7/ Die Simplicianischen Schriften des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Monumentalausgabe in zwei Bänden, F.W. Hendel Verlag zu Naundorf bei Leipzig, 1939
Trotz ihres Erscheinungsdatums ist diese prächtige Ausgabe frei von nationalsozialistischer Ideologie.
/8/ Grimmelshausens Werke in vier Bänden, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1984
/9/ Des Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen Abenteuerlicher Simplicius Simplicissimus, Albert Langen München, 1909