Der letzte große, der deutsche Krieg, den wir mit dem Rest der Welt begonnen und schließlich verloren hatten, ist das Thema des neuesten Buches von Gerlind Reinshagen. Es sind junge Mädchen an der Schwelle zum Frau-Werden, mit denen die Autorin uns die Kriegs- und ein Stück der Nachkriegszeit erzählt. Männer, die Krieger oder die Möchtegernkrieger, spielen in Reinshagens großem Roman "Vom Feuer" ihre Rollen nur am Rand. Während sie doch scheinbar, im heißen Krieg, an der Front, die tragenden, die Generalrollen gegeben haben. Es ist ein Blick von Opfern, die Kinder der Täter sind, auf den Krieg Es ist eine bisher ungekannte Sicht, die dringend von Vielen erkannt werden sollte.
Eine deutsche Kleinstadt - die Schule, die Bürgerhäuser, die schweren dunklen Möbel in den Salons - ist der Rahmen für das Kriegspanorama, das uns Gerlind Reinshagen malt. Und wenn "Vom Feuer" die Rede ist, dann nicht vom knisternden Kamin, nicht vom wärmenden Lagerfeuer, sondern von den Brandmalen, dem verzehrenden Feuer der Erinnerung, das die Frauen aus der Genration der Autorin noch heute aus dem Schlaf schrecken lässt. Worte wie "Hinterbliebene", "Vermisste" oder "Kriegswaisen" drängen aus dem Vergessenen nach oben und ragen wie Mahnmale in eine Zeit, in der Einsätze der deutschen Armee die Maske des Humanitären tragen, dem Abenteuerurlaub, so will man uns glauben machen, näher als dem Tod.
In ein Geflecht aus Geschichten und Briefen legt Gerlind Reinshagen Fundstücke, die längst vergessen geglaubt waren: Der Sekt aus Fliederblüten, das Brot aus Kürbis, der Ersatz von allem und jedem, der auch noch die Nachkriegsgeneration erreichte: Kaffee aus Eicheln, Tabak aus Kirschbaumblättern, Schnaps aus allem, was sich brennen ließ. Und als es dann wieder "etwas gibt", als das Echte wieder auf den Tisch kommt, da lässt uns die Autorin an einer Ess- und Trinkorgie teilhaben, die nur eine so aufschreiben kann, die selbst gehungert hat und außerdem weiß, wie man aus Worten Sinne macht.
Wenn die Männer im Roman bekannte Namen tragen, dann sind es die Helden der Wochenschauen, auf die man gegen Ende des Krieges so viel Hoffnung setzte, wie auf die Wunderwaffen, die den Deutschen zu schlechter Letzt noch den Sieg verschaffen sollten. Manche der Namen, Adolf Galland zum Beispiel, wurden noch in der jungen Westrepublik hoch verehrt. Der Legion-mCondor-Flieger zierte lange die Titelseiten der Hefte soldatischer Verbände, statt, wegen der Vernichtung des kleinen baskischen Städtchens Guernica, auf Fahndungsfotos zu erscheinen. Nicht selten, so Gerlind Reinshagen, blieben die wahren Helden unbekannt und sie erinnert deshalb an den Jungen aus der Nachbarschaft in der kleinen Stadt, der "um eines Wortes willen an einem Fleischerhaken aufgehängt" wurde.
Der Tod, der, als wolle er einen Witz reißen, am letzten Sonntag vor dem Kriegsende die kleine Stadt mit einem Bombenangriff überzieht, wird von Gerlind Reinshagen so beschrieben, dass kein Foto, kein Film diesen Schrecken gleichermaßen schrecklich abbilden könnte. Es sind zwei Buchseiten, auf denen eine große Autorin ihr ganzes Sprachvermögen, die gesammelte Kunst ihrer Schriftstellerjahre entfaltet und den Leser verstört in den noch andauernden deutschen Nachkriegsfrieden entlässt. Gerlind Reinshagen weiß, dass der Tod viele Namen hat und dass er "in Coventry gezeugt .. als Erwachsener« nach Deutschland zurückgekehrt war.
Eine lange Linie zieht das Buch vom letzten Krieg der Deutschen zu den Kriegen, die heute auf den Bildschirmen zu sehen sind. Ein Ton von Aufschluchzen ist im Lesen zu hören, so, wie man manchmal befreit aufschluchzt, wenn man sich vergangener Lasten erinnert. Ob es Befreiung bleibt, ob wir der besonderen deutschen Verantwortung für Krieg oder Frieden gerecht werden ist, seit der neuen Militarisierung der deutschen Außenpolitik, unsicher geworden. Der Roman der Gerlind Reinshagen kann und muss so gelesen werden, dass wir wissen, der lange Abschied vom Krieg noch ist nicht zu Ende.