Der kleine Ort Warenberg, nicht weit von Berlin, ist die Nussschale in der Kathrin Gerlof ein ganz großes Panorama deutscher Geschichte entwickelt. Mit der Weinreb-Familie, aufgestiegen aus dem Ghetto in die Reihe der besseren Leute, ist der Zeitrahmen abgesteckt: Von Bismarck über Hitler bis zu Kohl und den ungeklärten Besitzansprüchen an den kleinen Häusern, die damals, als es die DDR noch gab, an der Wilhelm-Külz-Straße lagen und die nach der Wende in Salomon-Weinreb-Straße umbenannt wurde. Külz war mal Reichsminister in der Weimarer Zeit, dann gemeinsam mit Theodor Heuss Vorsitzender der Demokratischen Partei Deutschlands und später mit Wilhelm Pieck Vorsitzender des Deutschen Volksrates, einem Vorläufer der DDR-Volkskammer. Dem Salomon Weinreb gehörte mal halb Warenberg und er wird in Gerlofs Buch "Das ist eine Geschichte" gemeinsam mit seinem Bruder die Retrospektive anführen.
"Es geht hier also nicht um Antisemitismus, es geht um Geld", schreibt eine der kleinen Hausbesitzerinnen einer Anwältin. Ihr Vater ist im Konzentrationslager geblieben, ein Politischer, die Mutter war im Widerstand und nun soll die Tochter, nicht alt genug, um am Judenmord beteiligt gewesen zu sein, den Preis für die deutsche Schuld tragen. Denn die Weinrebs hatten die Häuser zu Beginn der Nazi-Zeit verkauft. Nach dem Krieg besaß die DDR die Siedlung und verkaufte einzelne Häuser an ihre Bürger. Nun, nach der Wende, hatten die Sieger der Einheit über das Volkseigentum verfügt, dass die Rückgabe an frühere private Eigentümer einer "Entschädigung der Alteigentümer" vorzuziehen sei. Das könnten, im Fall Warenberg, die Weinrebs gewesen sein. Was wie eine Gerichtsakte daher kommt, gerät in der Hand der Gerlof zu einem Dramen-Mosaik, einem Stück in Stücken, einem Geschichts-Puzzle, verteilt auf viele beteiligte Menschen.
Mit Katrin Gerlof entdecken wir eine Business-Wessi an der Seite jener Ossis, die ihre Häuser behalten und keine zweiten Kaufpreis zahlen wollen. Verheiratet mit dem Sozialarbeiter, der nicht in Warenberg bleiben will, denn: "Hier gibt es nicht mal Drogensüchtige. Ich werde immer in die Stadt fahren müssen, um ausreichend Junkies für meinen Lebensinhalt zu finden." Die Autorin schildert den Hobbyhistoriker, der über den Antisemitismus in der DDR arbeitet und sie gönnt uns einen langen Blick auf den Zeitungsredakteur des Heimatblattes, der über die neue Zeit vor allem weiß, dass er nicht anecken soll. Die Gerlof gehört zu den wenigen in der neueren deutschen Literatur, deren Augen nicht auf den eigenen Bauchnabel fixiert sind, die den Kopf ins Freie hebt und dort ganz normale Leute mit ganz normalen Problemen entdeckt, die des Schreibens, des Beschreibens wert sind.
Mit diesen Augen für das Kleine, das der Geschichte erst die wahre Größe gibt, gelingt der Autorin ein Spannungsroman der Wirklichkeit, der auf der Suche nach der Moral entdecken lässt, dass es nicht nur die eine, wahre Moral gibt. Während sie mit der Stimme der Brüder Weinreb mahnt, die reiche und auch schreckliche Geschichte der deutschen Juden in die Jetztzeit zu tragen, vergisst sie keinen Moment, dass Besitz in unseren Verhältnissen zwar aus Geld kommt, aber ohne Arbeit eigentümlich bliebe: "Was haben wir uns alles vom Mund abgespart", lässt sie die Friseurin erzählen, die in der DDR-Zeit vom Materialmangel geplagt ihr Haus erhalten hat und deren Mann erstmal den Wessi-Vor-Besitzer mit der Axt vom Grundstück gejagt und die jüdischen Ansprüche gesittet mit einer Bürgerinitiative bestreitet. Das Ende der Geschichte vom Eigentum in Warenberg bleibt offen. Die Akte des Volkseigentums scheint geschlossen zu bleiben.