Wer anders sein wollte, musste in diese Kneipe gehen. Wo sich die trafen, die Sartre gelesen hatten, die Francois Hardy hörten, oder aber vom Glas-Zersinger des Günter Grass erzählen konnten und davon, dass in eben der "Blechtrommel" erstmals in westdeutscher Literatur ein SA-Trupp vorkamen, der einen jüdischen Laden stürmt. Da diskutierte sich was zusammen in der Kneipe, da war in den frühen 60er Jahren ein Vorabend zu ahnen, dem dann später die unruhigen Tage der 68er Zeit folgen sollten. In dieser Kneipe zitierte dann einer "Fern u=bootete eine lange Limousine durch Getreidemeere", das war aus "Kühe in Halbtrauer", jenem Buch von Arno Schmidt, das den Protagonisten der jüngsten Novelle von Uwe Timm damals, am "Freitisch", wesentlichen Debattierstoff lieferte.

Der Lehrer im neuen Buch von Uwe Timm, in den 60ern am Freitisch noch Student, und auch die anderen, die den kostenlosen Freitisch in der Kantine einer Versicherung genossen, wussten nichts vom Vorabend. Aber als zwei der ehemaligen Studenten sich im Städtchen Anklam, im Heute des vereinigten Deutschlands wiedertreffen - der Schmidt-Verehrer Euler und eben jener Lehrer - da hat man mehr als vierzig Jahre hinter sich, und weiß, dass den unruhigen Tagen die ruhigen Jahre folgten, aus denen der eine heute seine Pension bezieht, der andere eine Geschäftsidee entwickelt hat: Wie man den Müll der Städte schneller und effizienter vom Haus auf die Kippe bringt. "Das also ist aus dem revolutionären Projekt der neuen Gesellschaft geworden - Nachhilfe in Deutsch", lässt Uwe Timm den Euler über den Lehrer denken, der anscheinend mal die DDR gut fand, und der aus dem Westen nach Anklam gekommen war, weil er "das Verschwinden einer doch anderen Lebensform studieren" wollte.

Sie erinnern sich, Euler und der Lehrer, an ihre gemeinsame Fahrt zu Arno Schmidt, der zumindest dem Euler als ein Heiliger der Literatur galt, daran, dass damals die Amis den vietnamesischen Dschungel entlaubten, und an den dritten Mann ihrer Freitisch-Gespräche in München, der seine Freiheit vom Vietcong verteidigt glaubte. In einer Zeit, in der nicht nur die Bildzeitung sondern auch Willy Brandt die Freiheit des Westens durch die Amerikaner gegen den Vietcong verteidigt sah. Und während Timm die beiden erinnern lässt, gelingt ihm eine wunderbar oszillierende Momentaufnahme davon, wie das Ändernwollen in der Mülloptimierung des einen und im kleinen Antiquariat des anderen gemündet ist. Und es gelingen Miniaturen wie die: "Die Dächer eingebrochen, und aus den Mauern sprießen Büsche und Bäume. Wie auch hier, ein Haus, dem oben auf dem Dach ein Kranz grünt". So blühen die Landschaften also doch im Osten.

Es gibt sie noch, die Kneipe. Und nicht selten kann man unter der Patina der Jahre die Gesichter von damals erkennen. Arno Schmidt-Leser? Die galten den Grass-Anhängern in der Zeit beleidigend als "Formaline", absichtsvoll nicht "Formalisten" genannt, sondern als eben im konservierenden Sprachsaft des Worte-Destillateurs Schmidt eingelegt. In jener Zeit, als die Stimme der Dichter "noch Strahlkraft hatte". Uwe Timms Novelle strahlt nicht, sie schimmert. Wie gut poliertes Messing. Sie funkelt im milden Licht jener Abendsonne, die noch vom heißen Tag weiß und davon, dass anders sein muss, wer selbst sein will.