Seit Jahren, eigentlich seit immer, will er dahin, wo der DDR-Bürger nicht hin darf: In den Westen. In Joochen Laabs Buch »Späte Reise« wünscht sich der Erzähler, der frühere Straßenbahnfahrer und spätere Ingenieur, das, was nahezu alle DDR Bürger wollten aber nicht durften, außer sie waren Rentner, Kulturschaffende einer bestimmten Kategorie oder Funktionäre ab einer schwer zu bestimmenden Rangstufe. Doch der Ingenieur, der schon seit seiner Kindheit unter Fernweh leidet, dem ein Geographiestudium verweigert wird und dessen Fantasien um fremde Welten kreisen, wünscht sich diese Welt mit einer besonderen Intensität. Erst das Ende der DDR gibt ihm die Chance zu einer, besser: zu der Reise, er wird in die USA eingeladen.

Laabs, der sprachmächtige und ruhige Erzähler, hat mit seinem Protagonisten einen DDR-Simplicius geschaffen, einen der staunend und wenig beholfen in die neue Welt fliegt und sich von dort an die DDR erinnert, jenes verschwundene Land, dem es an allem fehlte und dessen einziges Merkmal, glauben wir dem Laabsschen Homunkulus, der Mangel war. Was da an DDR wieder aufersteht ist dicht und von plastischer Greifbarkeit: Die abgenutzten Büros, die ermüdenden Rituale der Versammlungen, die großen Fluchten in die kleinen Nischen und die Mühen der Fantasie des DDR-Bürgers: »Was hatte ich mir nicht schon alles eingebildet, um nicht gänzlich zu verzichten. Avocados und Auberginen, und wo sie herkamen, die Provence und Kalabrien, und wie man dort hinkommt,« lässt Laabs seinen Ingenieur grübeln.

Der Ingenieur gesteht sich ein, dass er kein «Zoon politikon« ist, er sei eher ein »Naturwesen, ein Landschaftsinhalierer« und diese Eigenschaft bekommt ihm und dem Autor und damit dem Buch, wenn er die Landschaften wieder ausatmet, es gibt da als vorzügliche Beispiele die Geschichte einer eisigen Straßenbahnfahrt durch Cottbus in der man ob ihrer Intensität mitfrieren muss und einen Dialog zwischen dem müden, von der Arbeit heimkommenden Vater und seiner quirligen, fordernden Tochter, der eine wunderbare, heimelige Wärme ausstrahlt. Aber um das große fremde Land zu beschreiben hätte es doch mehr des »Gemeinschaftswesens«, so begreift Aristoteles das Zoon politkon, bedurft. So führt uns der Straßenbahner, immer im Kontrast mit einer verschlissenen DDR, an so gigantische Frühstücks-Büffets, in so großzügige Villenvororte und zu so endlosen Weiten, dass man manchmal glauben könnte Ironie aufschimmern zu sehen, wenn da nicht die kaum ironisch gemeinten DDR-Schilderungen wären.

Vom Anfang bis zum Ende der sechshundert Seiten erfährt der Leser den Namen des Laabschen Ich-Erzählers nicht. Diese Distanz zur Hauptfigur des Buches setzt sich in den Nebenfiguren, die natürlich Namen tragen, fort. Sie alle denken mindestens so klein, tragen so wenig Farbe, wie es jener DDR-Wirklichkeit entspricht, die Laabs in »Späte Reise« schildert. Wo mögen all die klugen, lebendigen DDR-Leute geblieben sein, die dem Mitglied des DDR-PEN-Zentrums Joochen Laabs natürlich nicht verborgen geblieben sein können. Im Roman dominieren die Beschaffung einer Schrankwand aus Hellerau und der unendlich mühsame Bau einer Zahlbox für die Straßenbahnen der Republik das tägliche Leben. Dass die DDR zu Recht verschwunden ist, sowohl weil sie vielen ihrer Bewohner unerträglich geworden war, als auch, weil sie mit ihrer Auflösung ihre Fähigkeit zur Existenz faktisch verneinte, bedarf, gute fünfzehn Jahre nach der Wende, keiner Argumente mehr.

Einem Hinweis des Autors folgend, besichtigt der Leser mit dem jungen, gerade angestellten Ingenieur die kleine Stadt Kaisersaschern. Es ist jene fiktive Stadt an der Saale, in der Thomas Mann in seinem Faust-Roman, den Adrian Leverkühne seine erste wesentliche Lebensstation erfahren lässt. In Laabs Roman ist es eine Stadt in der das Bürgertum und mit ihm die bessere Zeit vergeht und die geliebte Straßenbahn überflüssig wird. Als habe das deutsche Bürgertum sein Vergehen nicht schon lange vor der Existenz der DDR herbeigeführt, als hätte die Straßenbahn, das Hindernis für die »autogerechte Stadt« in den Städten des Westens nicht längst auf der roten Liste gestanden. Des Autors Erzählvergleich, aus Strähnen der USA und der DDR geflochten, endet mit dem Beginn des ersten Irak-Krieg. Ratlos fragt sich der unbenamste Ingenieur ob der »wer auch immer am Drücker ist, Zügelung« braucht. Es ist natürlich ein alter, wahrscheinlich mit der DDR untergegangener Anspruch an die Literatur, dass sie des Rates gäbe. Schon um in nicht in einen Verdacht zu geraten werde ich ihn nicht anmelden.

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