Man kann am Ende aus Michael Moores neuestem Film "Sicko" rausgehen und sich was auf das deutsche Gesundheitssystem einbilden. Man kann aber auch beim Lachen über die reichste Nation der Welt, die sich das ekelhafteste, erbärmlichste Gesundheitssystem leistet, das nur denkbar ist, in eine Kältestarre fallen. Angesteckt von einem mitleidlosen gesellschaftlichen Klima, erzeugt von einem System, das Millionen Amerikaner in Krankheit, Armut und Verzweiflung stürzt. Das System ist auch das unsere: Der gewöhnliche Kapitalismus.
Michael Moore ist nicht zimperlich, schon das erste Bild des Films zeigt einen Mann, der seine offene Schnittwunde am Knie selbst näht, weil ihm ein Besuch im Krankenhaus zu teuer ist. Nur wenig später besucht Moore seine ersten Protagonisten, unter ihnen den Mann, den seine Krankenversicherung vor die Wahl gestellt hat, den Ringfinger für zwölftausend Dollar wieder anzunähen oder den abgesägten Mittelfinger für sechzigtausend. Denn neben den Millionen Amerikanern, die nicht das Geld für eine Krankenversicherung aufbringen können, gibt es den großen Rest, der zwar versichert ist, dessen private Versicherungen aber alles tun, um nur ja nicht zahlen zu müssen.
"Sicko" ist ein agitatorischer Film und er tut nicht so, als wäre er es nicht. Aber wenn, zu den Klängen von Star Wars und im grafischen Modus des Blockbusters, hunderte von Krankheiten auf der Leinwand lesbar sind, die den Krankenkassenausschluss zur Folge haben, dann wird eins klar: Moore betreibt Agitation mit Fakten, ist brüllend komisch, zum Heulen sentimental und brachial in der Argumentation, um nichts anderes zu sagen als die Wahrheit. Zu dieser Wahrheit gehört auch die Furcht der US-Eliten vor staatlichen Einrichtungen, die immer noch von einem Pawlowschen Antikommunismus her rührt. Ironisch montiert der Filmemacher stalinistische Agit-Prop-Filme in den seinen und beschwört so ein Bild vom Zwangsarzt und dem Zwangskrankenhaus, ein Bild, dass die Regierungs- und Lobby-Propaganda der USA seit Nixon in die Köpfe der Amerikaner brennt.
In der Reihe der Präsidenten, die für die Privatisierung eines vormals staatlich Gesundheitssystems verantwortlich waren, findet sich auch eine Präsidentenfrau: Hillary Clinton. Sie wurde in Clintons Amtszeit anfänglich zur Mutter einer staatlichen Alternative zu den privaten, räuberischen Kassen und ruderte dann zurück. Moore weiß warum, er nennt die Zahl der Wahlkampfspenden, die Frau Clinton von den Kassen bekam und die Namen der Abgeordneten, die ebenfalls jede Menge Kohle einsackte oder nach ihrer Politikertätigkeit von der Versicherungsindustrie mit gut dotierten Jobs versorgt wurden. Moore benutzt die swiftsche Methode: Er provoziert seine Zuschauer, um sie klüger zu machen. Insbesondere dann, wenn er sich über den amerikanischen Patriotismus lustig macht.
Denn der normale US-Bürger glaubt nicht nur, dass er im "land of the free" lebt, er ist auch fest davon überzeugt, dass er im "land of the best" wohnt. Mit beißendem Vergnügen zeigt der Regisseur, dass es im Nachbarland Kanada ein gut funktionierendes staatliches Gesundheitssystem gibt, dass es in England auch kaum schlechter ist und dass sogar die Franzosen, seit dem Irak-Krieg im Medienmainstream zum Erbfeind erklärt, nicht nur über eine erstklassige Gesundheitsfürsorge verfügen, sondern auch über Kinderkrippen und über jene staatliche Familienhilfe, die jungen Müttern und Vätern in der Babyphase das Windelwaschen abnimmt. Kaum ein Bild von den vielen satirischen Bildern des Films ist komischer als jenes, das den dicken Moore zeigt, als er mit einem Korb voller Wäsche unter dem Arm die Stufen zum Capitol hochwackelt und erwartet, dass auch ihm jemand dort die Wäsche wäscht.
Nicht komisch, sondern herzzerreißend sind die Schicksale dreier freiwilliger Helfer aus den Tagen von 9/11. Menschen, Freiwillige, die beim Graben nach Überlebenden ihre Gesundheit gelassen haben und denen heute niemand hilft. Krank, arm und missachtet vegetieren diese "Helden" nun am Rand der Gesellschaft. Moore, der sich vor nichts scheut, nimmt einen staatlichen Propagandafilm über das Lager von Guantanamo, der von der kompletten Gesundheitsfürsorge für die dort Einsitzenden erzählt, vorgeblich ernst und fährt mit seinen kranken Helden zum Lager und versucht dort für die Opfer des 9/11 eine anständige Behandlung einzuklagen. Aus dieser Slapstick-Nummer vor dem US-amerikanischen Lager gerät der Regisseur mit seinen Kranken nach Kuba und dort in den schrecklichen Kommunismus und den staatlichen Gesundheitsterror Castros. Zwischendurch referiert er Zahlen der Weltgesundheitsorganisation, die den Kubanern eine längere Lebenszeit und eine geringere Kindersterblichkeit attestieren als den Nordamerikanern. Und dann kommt es zu einem Happy End, bei dem nur noch Julia Roberts und Richard Gere fehlen und es ist süßlich, es ist agitatorisch und ganz sicher inszeniert. Aber es hat den Vorzug wahr zu sein.
Michael Moore hat, auf der Höhe seines Handwerks, einen bewundernswerten Film gemacht. Der sollte der Gesundheitsministerin, den Ärzte- und Apothekerverbänden und den Kassenvorständen zwangsweise vorgeführt werden. Denn, wenn wir auch bisher noch vom Kassensystem der USA entfernt sind, der Einstieg ist bei uns mit der so genannten Gesundheitsreform längst gemacht.
"Sicko" kommt am 11. Oktober in die Kinos.