Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Johann Wolfgang von Goethe, Faust

Da war doch was: Das Merkel-Erdogan-Theater, der große Donner, den die kleine Kanzlerin immer blitzen lässt, wenn es um die Türkei geht. Kein türkisches Gymnasium oder doch eine türkische Lehranstalt? Auf keinen Fall eine türkische EU-Mitgliedschaft! Das beeindruckt Wähler. Wenn wir schon nicht den Krieg in Afghanistan gewinnen, sagt der Stammtisch, den mit den Türken gewinnen wir allemal. Hätte unser Land eine wirkliche Bildungspflicht, müsste der Wähler gezwungen werden Orhan Pamuk zu lesen, einmal im Jahr vielleicht. Und sei es auch nur eine der vielen Geschichten aus seinem jüngsten Buch "Der Koffer meines Vaters". Kanzler allerdings müssten schon, vor ihrer Vereidigung, den Inhalt zweier Pamuks nacherzählen können. Türkischen Ministerpräsidenten würde es auch nicht schaden.

"Lesen und Schreiben" erzählt uns Orhan Pamuk, "bedeutete, aus der einen Welt herauszutreten und in der wundersamen Verschiedenheit der anderen einen Trost zu finden." Allein ein solcher Satz, auf die Stirn von Politikern tätowiert, hülfe, wenn er denn begriffen würde, um aus der Verschiedenheit der Völker einen Erkenntnis-Gewinn zu erzielen, statt mit den Unterschieden eine miese Spekulation auf Abgrenzung zu tätigen, die mit ein paar Wahlprozenten einen schäbigen Machtzuwachs erreicht. Es ist eine Sammlung von Essays und poetischen Miniaturen, die mit dem neuen Buch von Pamuk den Lesern anvertraut werden, scheinbar unzusammenhängend, wie zufällig gebunden, zusammengehalten aber von einer tiefen Liebe zu den Menschen.

Ein skandinavischer Verleger, so erinnert sich Pamuk, verwechselte im Gespräch mit ihm immer wieder Istanbul mit Budapest. Der Schriftsteller mochte den Mann nicht korrigieren, schreibt er in einem Aufsatz über die "Provinzialisierung der Türkei", weil er, beschämt über die Dummheit türkischer Eliten, sein Istanbul nicht verteidigen mochte. Im selben Essay beklagt er die mangelnde Neugier auf andere Kulturen. Und so, wie er mit dem Finger auf die Politiker seines Landes zeigt, so könnte er auf die anderer Länder weisen, vornehmlich auf die unsrigen: Die in einem Land regieren, in dem die meisten Türken außerhalb der Türkei wohnen, von denen kaum jemand etwas weiß, wissen will.

Mit einem Aufsatz über den Maler Gentile Bellini, der im Ergebnis seiner Reise in den Orient ein Bild des Sultan Mehmet und andere Portraits hinterließ, erinnert Pamuk an das Bilderverbot des Islam und kommt zu einem außerordentlichen Schluss: Nach der Renaissance sei die Überlegenheit des Westens über den Osten zunächst in der Kunst zu spüren gewesen, nicht in der Kriegsführung. Immerhin schreibt der Autor über eine Zeit, in der das Osmanische Reich Eroberung an Eroberung reihte und beträchtliche Teile Europas beherrschte. So als ginge die Macht der Kunst jener der Waffen, der Ökonomie und der Politik voraus. Und wer kein Bildnis von sich selbst ertragen könne, dem fehle eine wichtige Einsicht, meint der Autor.

Einsicht in die Dummheit der Macht gibt Pamuk in einem Artikel über "Sadam - Bush - Erdogan", mit dem er eine lange und scharfe Linie vom Irak-Krieg zu den Mängeln türkischer Demokratie zieht. So ziemlich alles, was er dort schreibt, lässt sich, ersetzt man Irak gegen Afghanistan und Türkei gegen Deutschland auch auf den "umgangssprachlichen" Krieg um Kabul beziehen: " . . . doch die Zahl der willigen Terroristen (in Folge des Krieges) wird sich garantiert erhöhen." Spät im Buch gelingt dem Schriftsteller ein Satz von tiefer Wahrheit: "Die Türkei soll sich nicht grämen, weil sie zu zwei verschiedenen Kulturen gehört und zwei Seelen hat. Schizophrenie macht einen intelligent." Zumindest mit Orhan Pamuk ist dieser Satz zu belegen.

Neben einfühlsamen Schilderungen türkischen Alltagslebens, neben blendenden Stücken internationaler Kulturkritik, die im Buch zu lesen sind, lässt Pamuk uns intensiv an der türkischen Debatte über die nationale Identität teilhaben und schürt so die Neugierde auf ein Land, das in der deutschen Literatur keine Rolle spielt. Halt, da war doch was: Johannes Tralows Osmanische Tetralogie, jener Zyklus, der den Aufstieg türkischer Nomaden zur Weltmacht beschrieb und der in der DDR verlegt wurde. Aber das, liebe Leser, spielt in einer Zeit, als es noch ein gesamtdeutsches P.E.N-Zentrum gab. Und diese Zeit ist im zusammengesammelten Deutschland mindestens so unbekannt wie die Türkei.