Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat jüngst den Erben zweier Führungskräfte von Nazi-Rüstungsbetrieben Entschädigungen zugesprochen. Die beiden Herren waren unmittelbar nach dem Krieg von den Sowjets enteignet worden. Der Grund: Beschäftigung von Zwangsarbeitern. Was das mit Werner Bräunigs Buch »Rummelplatz« zu tun hat? Alles. Denn Bräunigs Buch ist der Roman der DDR-Gründerjahre. Und die Gründung der DDR war wesentlich eine Folge, eine Negation jener Nazi-Zeit, die soeben von einem Gericht freigesprochen wurde. Immerhin hätten die Chefs der Betriebe die Zwangsarbeiter »anständig« behandelt, glaubt das Gericht und schämt sich nicht. Natürlich hatte die Gründung der DDR auch mit sowjetischer Militär- und Geopolitik zu tun und mit der damaligen Zweiteilung der Welt. Aber warum stand denn die Rote Armee in Deutschland, warum bestand die Führungsschicht der DDR wesentlich aus Exilanten, Illegalen und ehemaligen KZ- und Gefängnisinsassen? Weil die Nazis die Welt erobern wollten und auf dem Weg nicht nur Millionen Tote in Kauf nahmen. Sie wurden auch von ihren Gegnern besiegt: Der Roten- und der US-Armee und denen, die sie außer Landes getrieben und erfolglos versucht hatten umzubringen. Wer die Umdichtung der Geschichte, das Verständnis darüber, wer von 1933 - 1945 »anständig« war, im Urteil des Leipziger Gerichtes erkennt, der versteht die Gründung der DDR und den Roman von Bräunig, der von den Anfängen der DDR handelt, ein Roman der erstmals, rund vierzig Jahre nach seiner Fertigstellung, gedruckt vorliegt.
So wie der Roman die DDR-Gründungszeit emphatisch und kritisch beschreibt, so ist sein Nichterscheinen, sein Wegzensurieren in der DDR, einer der Zugänge zum Verständnis des Verschwindens eines sozialistischen Versuchs auf deutschem Boden. Denn Bräunig, ein überzeugter Kommunist, ein glühender Verfechter einer neuen, humanen Gesellschaft, hat den klaren Blick auf die Wirklichkeit des neuen Staates. Er schreibt sich die DDR, die er liebt, nicht schön. Wer seine spießigen Parteisekretäre, seine Tacheles redenden Arbeiter, seine Apparatsopportunisten und seine komplizierten Helden gelesen hat, der weiß, dass eine prüde, kleingeistige und furchtsame Parteiführung den Roman nicht hat erscheinen lassen können. Ob die DDR, mit einer anderen Führung, einer anderen Sowjetunion an ihrer Seite, hätte überleben können ist eine der Fragen, die man der Geschichte nicht stellen kann. Dass aber die DDR mit einer Atmosphäre, in der die DDR-Literaten wie die Bräunigs, die Wolfs und die Neutschs und deren Leser ohne Repressionen die richtigen Fragen unverstellt hätten aufwerfen können, eine andere gewesen wäre, steht außer Frage.
Doch lange vor einer politischen Wertung ist »Rummelplatz« im besten Wortsinn unterhaltend, ein Entwicklungsroman mit saftigen Figuren, mit allem was die Spannung braucht an Liebe und Schmerz, an Angst und Mut, an Ab- und Aufstieg, an Rauferei und Klartext. Und vor allem gibt uns der Autor eine Bühne für die DDR-Gründerjahre, wie sie besser kaum hätte gewählt werden können: Die »Wismut«, jener legendäre Uran-Bergbau im Erzgebirge, der den Sowjets im Wettlauf mit den USA um die atomare Gleichberechtigung so wichtig erschien, dass er einer der wenigen sowjetisch-deutschen Betriebe sein musste, dass in ihm die höchsten Löhne gezahlt und der höchstprozentige Deputat-Schnaps ausgegeben wurde. Klein-Texas eben, wie die Gegend im Volksmund hieß. Anfang der fünfziger Jahre wühlten dort etwa 200 000 Beschäftigte nach Uran, die Zeche war ein Staat im Staat und wenn es in der zuweilen langweiligen DDR einen Ort gab, an dem Abenteuer stattfinden konnten, dann dort. Hier kannte sich Breunig aus, der Mann der Schwarzhändler gewesen war, Mitglied einer Jugendbande, Sträfling und später Mitglied des DDR-Schriftstellerverbandes und Autor des berühmten Aufrufs »Greif zur Feder, Kumpel«. Auch in der »Wismut« hatte er gearbeitet: »Schreiben ist wie Bergmannsarbeit. Tief in die Stollen des Lebens eindringen muss der Schriftsteller«, formuliert er in jenem Appell, der die Vereinigung von Kunst und Leben zum Programm machen wollte. Ein Projekt mit Verkündigungscharakter und schon deshalb zum Scheitern verurteilt.
In Bräunigs nachgelassenem Manuskript entdeckt man eine Spezies, die im Westen, und wo ist heute nicht Westen, bestenfalls dem Autor Zola nachgesehen wird: Die Arbeiter. Kaum jemand mag sich zwischenzeitlich, außer vielleicht in den Filmen der Kaurismäkis, Arbeiter als ungewöhnliche, als tragende Figuren vorstellen. Bräunig liefert sie in Serie. Nicht primär als hölzerne Helden des sozialistischen Aufbaus, sondern als farbige, kraftstrotzende Menschen, die sich aus ihren Widersprüchen entwickeln, auch stehen bleiben und zurückfallen und doch geschichtsmächtig sind. Bräunigs Thema ist die Menschwerdung des Menschen durch Arbeit, jener Prozess der Aneignung der Welt, der nichts mit Besitz, sondern mit Verfügungsgewalt zu tun hat, der aus der Arbeit gesellschaftliche Erkenntnisse vermittelt und Gerechtigkeit einfordert. Dass ihm inmitten der groben Jungs, die auf den Boden spucken, saufen und schweinische Witze erzählen, auch ein eindringliches Frauenportrait gelingt, spricht ebenso für ihn, wie ein sympathischer VEB-Betriebsleiter der früher Mitglied der NSDAP gewesen war und den er aus Verhältnissen erklärt und nicht aus dem Lehrbuch. Wann immer der Autor den Kumpels aufs Maul schaut, läuft er zur Höchstform auf: »Helft Hüte verbrennen« lässt er einen von ihnen angesichts einer der jede Straßenecke zierenden Losungen denken, während der Spruch doch in Wahrheit »Helft Brände verhüten« heißt.
Bräunig lässt seinen Roman, der ursprünglich auf zwei oder drei Bände angelegt war, im vorliegenden ersten Band am 17. Juni 1953, dem Tag an dem nicht wenige Arbeiter der DDR die Gefolgschaft verweigerten, enden. Auf dem Weg zu diesem Tag weicht er kaum einem Thema jener Zeit aus. Ein längerer literarischer Ausflug führt ihn und den Leser in das junge Westdeutschland, das seltsam leblos erscheint, wie als Kontrastmittel in den Roman hinein konstruiert. Vielleicht war es Bräunig notwendig, weil er dort zu Recht jene verortete, die mit allen Mitteln, außer dem heißen Krieg, die junge DDR vernichten wollten. Man hätte in Düsseldorf und anderswo schon gerne »seine« Betriebe wieder gehabt, zumindest die hoch qualifizierten Fachkräfte lockte man mit beträchtlichen Prämien in den Westen, um neue Unternehmen aufzubauen oder nur, um der Ökonomie der DDR zu schaden. Ein Thema dass so gründlich vergessen ist, dass wahrscheinlich schon keiner mehr glaubt, es wäre so gewesen. Aber wenn es doch einer einklagen wollte: Die Verhältnisse haben ja dieses Gericht in Leipzig, dem wundersamen Eigentumswandel kann nichts geschehen.
Am Ende des Buchs steht der Tod einer seiner Hauptfiguren und der Autor fragt: »Was bleibt, wenn ein Arbeiter stirbt?« Eine anachronistische Frage sollte man meinen: Sein Golf, sein Schrebergarten, seine Urlaubsdias, wenn er denn lange genug Arbeit hatte. Wenn nicht: Eine Nachforderung der Hartz-IV-Behörde, weil man sein Sparkonto aus den besseren Tagen entdeckt hat. Dass da noch etwas anderes sein könnte, und wer zwar die Nazis besiegt, aber nicht den Krieg gewonnen hat, das ist in Bräunigs Buch zu entdecken und auch eine Rückschau, die aus der Zukunft kommt. - Werner Bräunig starb 1976.
PS.
Zu »Rummelplatz« gehört ein umfänglicher Anhang, in dem zwei variierende Episoden aus dem ersten Band veröffentlicht sind. Die zu lesen habe ich versäumt. Sowohl weil ich glaube, dass sie eher für Literaturwissenschaftler geeignet sind, als auch, weil der erste Band, wie alle ausgezeichneten Bücher, erst einmal Kraft geraubt hat, bevor er die investierte Energie zurück geben wird. Später werden auch die Varianten gelesen werden.
Der Anhang enthält auch ein wissendes und liebevolles Nachwort der Herausgeberin Angela Drescher. Denjenigen deren DDR-Kenntnisse eher gering sind, empfehle ich, das Nachwort vor der Roman-Lektüre zu lesen. Aber auch die Kenner von Zeit und Ort sollten auf keinen Fall darauf verzichten (Das Buch erscheint zur Leipziger Buchmesse, 20.03.07).