Da war mal was: Die Solidarität der kleinen Leute, das kleine Bier und das Gespräch über die Welt nach der Arbeit, ein Mitfühlen ohne Zögern, ein Arm gekrümmt zum Unterhaken. Das ist heute alles ziemlich erledigt: Geld gilt, nicht Gefühl, nach der Arbeit wartet der Fernseher, dort wird die Welt erklärt und was sich jetzt noch krümmt, das ist der Buckel. Aus dem freundlichen Gestern hat Aki Kaurismäki einen Film für das kalte Heute gemacht: LE HAVRE. Ein Märchen wie er sagt, aber eines, in dem das "Rotkäppchen den bösen Wolf frisst".
Marcel (André Wilms) putzt anderer Leute Schuhe, schlägt sich eher schlecht als recht durch, man mag ihn in seinem Quartier, aber seine Anpumperei geht dem Gemüsehändler, der Wirtin und der Bäckersfrau dann doch langsam auf die Nerven. Sie haben selbst nicht viel, da bleibt auch der charmanteste Schnorrer ein Schnorrer. Kaurismäki zeichnet diese schwierige Gemengelage mit einem wunderbaren Eingangsbild, als Marcel vor einem Laden erscheint, flüchtet der Inhaber, lässt die Rolläden herunter und behauptet, obwohl seine Füße noch zu sehen sind, er sei längst in seiner Wohnung.
Wenn ein Unglück kommt, ist das nächste nicht mehr fern: Marcels Frau Arletty (Kati Outinen) erkrankt, es gibt wenig Hoffnung auf ein Überleben. Auch mit Arletty ist die zarte Hand des Regisseurs fühlbar: Sie ist keine Schönheit, aber wenn man auf den bunten Strass-Stern schaut, den sie im Haar trägt, wenn sie mit behutsamen Bewegungen ihren Mann umsorgt, dann schimmert plötzlich aus dem verbrauchten Gesicht eine Jugendliebe auf, die auch die Deine hätte sein können. Das parallele Unglück ist ein Container im Hafen von Le Havre. Der hätte eigentlich nach London geliefert werden sollen. Doch jetzt, in Frankreich, entlässt er seine schwarze, lebendige Fracht, Flüchtlinge aus der Armut, aus einem engen Gefängnis in ein größeres.
Denn natürlich ist das Land von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, den Armutsflüchtlingen so feindlich wie die anderen reichen Länder auch: Die Abschiebehaft wartet mit Stacheldraht und Maschinen-Pistolen auf sie. Nur der kleine Idrissa (Blondine Miguel) entkommt dem Lager. Marcel entdeckt ihn und macht ihn, gemeinsam mit den Nachbarn seines Quartiers und dem unbeliebten Kommissar Monet (Jean-Pierre Darroussin) zu einem Projekt der Brüderlichkeit, wenn schon Freiheit und Gleichheit nichts mehr gelten.
Auf dem langen Weg von Idrissas Flucht gelingen dem Regisseur Bilder von karger Schönheit. Es ist eine Schönheit, die auch Gerümpel kennt, zerrissene Klamotten und bröckelnde Häuser. Es ist jene Anmut, vor deren Hintergrund die staatliche Pracht- und Gewaltentfaltung umso schäbiger wirkt.
Der Film kommt am 8. September in die Kinos.