An die junge Haubenlerche draußen vor ihrer Haftzelle, die Rosa Luxemburg in ihren Briefen aus dem Gefängnis so liebevoll schildert, erinnern die ersten Bilder in Özcan Alpers Film „Sonbahar“ („Herbst“): Yusuf, seit zehn Jahren wegen Beteiligung an den Studentenrevolten in Einzelhaft, hört kaum die niederschmetternde Diagnose des Gefängnisarztes; der von Folter, zerstörter Lunge und Hungerstreik Gezeichnete ahnt auch so sein baldiges Ende, denn vor seinen Gitterstäben sitzt eine Krähe, und Krähen sind Boten des Todes. Das weiß Yusuf seit seinen Kindertagen in einem Bergdorf zwischen dem Schwarzen Meer und der türkisch-georgischen Grenze, in das er nun, vorzeitig entlassen, zurückkehrt zu seiner alten Mutter, die kaum noch an seine Wiederkehr geglaubt hat. Hier leben nur noch ein paar alte Leute und Mikail, sein Mitkämpfer aus alten Zeiten, der hier zurückgezogen eine kleine Schreinerei betreibt.
Man tauscht Erinnerungen aus, die schmerzen nicht weniger als Yusufs Lunge. Mikails Versuch, ihn ins Leben zurückzuholen, in dem er ihn in der Hafenstadt in ein Stundenhotel mit georgischen „Gastarbeiterinnen“ führt, muss letztendlich scheitern, auch wenn sich zwischen der Georgierin Eka und Yusuf so etwas wie Liebe entwickelt und Eka sich eine glückliche gemeinsame Zukunft in ihrer schönen Heimatstadt Batumi ausmalt. Den erforderlichen Pass beschafft sich Yusuf noch, doch am Ende sitzt Eka alleine im Bus, und Yusufs Mutter Gülefer hat vergeblich die Krähe von der Veranda verscheucht…
Einzelhaft macht wortkarg oder stumm. Regisseur Alper macht sich dies zunutze für eine Erzählweise, die mit ganz wenig Dialog auskommt und lieber aus Details und Andeutungen Stimmungen kreiert, die wenig Worte und nur sparsam eingesetzte Musik brauchen. Einzelheiten über die Haftzeit erfahren die versammelten Nachbarn nur nach hartnäckigem Fragen, und über seine Diagnose spricht Yusuf nicht einmal mit seiner Mutter oder Eka. Ein paar Bildfetzen aus der Gefängsnisrevolte oder TV-Bilder über die Straßenkämpfe und Demonstrationen, als knappe Rückblenden oder als Yusufs wiederkehrende Alpträume in die karge Handlung eingestreut – mehr erfahren wir nicht über die Vorgeschichte seiner Haft. In einer der berührendsten Szenen telefoniert Eka mit Yusuf, während beide im Fernsehen Tschechows „Onkel Wanja“ anschauen. Mikail (der kaum zufällig einen russischen Namen trägt) ahnt auch ohne Worte, warum Yusuf die Gebirgswanderungen früherer Jahre nicht erst im Frühling wieder aufgreifen will. Da ist die Seelenverwandtschaft mit Händen zu greifen.
Man mag es kaum glauben: „Sonbahar“ ist ein Erstlingswerk, weder Regisseur Alper noch seine drei Hauptfiguren haben je zuvor einen Spielfilm gedreht. Während Onur Saylak (Yusuf) und Megi Kobaladze (Eka) immerhin Bühnen- oder TV-Erfahrung haben, holte sich Alper für die Rolle von Yusufs Mutter die grandiose Raife Yenigül, eine betagte, aber politisch engagierte Laiendarstellerin aus dem Bergdorf Hopa, in dem er drehte. Doch auch hinter der Kamera ist alles vom Feinsten: Alper selbst schrieb sein Drehbuch offenbar mit Erfahrungen der eigenen Biografie. Feza Çaldirans Kamera macht die schroffen Berge und Schneelandschaften mit ihren schnellen Wetterumschwüngen zu bestimmenden Handlungselementen, lässt uns Zeit, in den Gesichtern zu lesen, was nicht gesagt werden kann, und Thomas Balkenhols Schnitt beflügelt im raffinierten Wechsel von Ruhe und innerer Dramatik unsere Phantasie, bevor ihm ganz zum Schluss noch ein wahrer Genieschnitt gelingt. Dass dieses schon 2008 fertig gestellte Meisterwerk trotz zahlreicher Festivalerfolge erst jetzt (am 4. März) ins Kino kommt, spricht Bände. Dem kleinen, mutigen Verleiher Filmfabrik/Barnsteiner sollte man es durch zahlreichen Besuch danken!