Zwei Texte in einem Buch: Einer verfolgt die Wanderungen von sechs Gedichten des großen Jorge Luis Borges. Er wird zu einer Reise durch das Gedächtnis der Menschen, zu einer Erforschung der Begrifflichkeit von Original und Fälschung. Der andere handelt scheinbar von der Zeit des italienischen Exils des Autors Héctor Abad, der mit dem Buch "Das Gedicht in der Tasche" einen erneuten Beweis seiner großen Erzählkraft abgelegt hat. Auch wenn der zweite Text tatsächlich über das Exil des kolumbianischen Autors handelt, ist das wesentliche Thema erneut jenes, das sich mit Fälschung und Original beschäftigt: Gezwungen, sich als Spanier auszugeben, lebt der Kolumbianer in Turin einen Teil seiner Existenz als besonders spanischer Spanischlehrer, weil seinen Schülern sein Latino-Akzent nicht kastilisch genug erscheint.

Unsere ganze Welt lebt mit und von Fakes: Wer mag noch beurteilen, welche der täglichen Nachrichten echt sind, oder wie hoch ihr Fälschungsanteil ist? Wenn der TV-Sprecher sagt, Israel sei mit der Haltung Obamas in der Palästinenserfrage nicht einverstanden, enthält der Text jede Menge Fälschungen. Angefangen damit, dass im Staat Israel jede Menge Palästinenser leben, die sehr wohl mit der Haltung Obamas einverstanden sind, bis zur Tatsache, dass hinter der leisen Drohung Obamas ziemlich sicher eine Scharade steckt: Die USA werden Israel zu nichts zwingen, möchten aber ihren schlechten Ruf in der arabischen Welt dringlich verbessern. Doch hundertfach von mancherlei Sendern und Zeitungen wiederholt, wird die falsche Nachricht zu einer temporären Wahrheit, bis zum nächsten, zum neuen Fake.

Doch während in der Politik die Lüge zunehmend als die halbe Wahrheit vorausgesetzt wird, gilt die Fälschung in der Kunst als Verbrechen: Das selbe Bild, einmal als Picasso autorisiert, wenig später als unecht entlarvt, vorher als große Kunst gewichtet, nachher nichts mehr wert, gewinnt oder verliert durch den Originalstempel. Auch das Gedicht, das Abad in der Tasche seines ermordeten Vaters findet, das ihm als eine wirkliche Arbeit des Dichters Borges erscheint, wird erst das Tal der Fälschung durchschreiten, ehe es, in einem langen, wunderbar spannenden Literaturkrimi, den Gipfel des Originals erklimmt. So ganz nebenbei gelingt auf diesem Weg dem Berenberg Verlag, der das Buch mit seinen schließlich sechs gefundenen Borges Gedichten veröffentlicht hat, eine wahrer Coup: Auch wenn die Sonette nicht von der Erbin des Dichters autorisiert sind, werden sie doch erstmalig in Deutschland als echte Kostbarkeiten veröffentlicht.

Der echte Héctor Abad lebte im italienischen Exil in zwei falschen Existenzen. Zum einen ist er der bedauernswerte Asylant, der von Amnesty International betreut wird, gemeinsam mit Chilenen und Argentiniern auf Veranstaltungen auftritt und so die Hilfe der Europäer für die armen Latinos evoziert. Ja, schreibt Abad: "Auch ich war ein Aussätziger wie sie. Aber deshalb gefiel es mir noch lange nicht, mit den Aussätzigen zusammenzuleben." So gerät der Autor in die sonderbarste aller Originalitätsfallen: Er ist, was er ist, will es aber keinesfalls sein. Sage keiner, das Ringen um eine echte Fälschung würde keine wunderbare Wahrheit hervorbringen: ". . . und sich beinahe niemand mehr die Mühe macht, das genaue Wort zu gebrauchen, um die genaue Sache zu bezeichnen, es genügt ja , auf das Ding hinzuweisen . . . oder aber das Ding auf dem Bildschirm zu zeigen." Voila: Der doppelte Boden der Mediengesellschaft ist so ein Ding.

Als Abad, um seine Armut zu mildern, beginnen will Unterricht in der spanischen Sprache zu geben, mit der der Dichter lebt, will man ihn nicht als Lehrer: "Sie suchten bei meinem Spanisch die kontrollierte Herkunftsbezeichnung D.O.C., wie bei Weinen." Also tritt der echte Kolumbianer als falscher Spanier auf, um echtes Spanisch zu lehren. Dass ihm nur seine Entlarvung als Kolumbianer die Liebe einer außergewöhnlich schönen Italienerin einträgt: "Stell dir vor, ich hatte noch nie einen kolumbianischen Geliebten", das ist die Pointe des wahren Lebens. In der Politik wäre er erledigt gewesen. Temporär versteht sich.