Den gescheitesten Satz sagt ein Verrückter: "Der Mensch kann sein Interesse nur dann zu seinem Wohl wahrnehmen, wenn er zugleich die Interessen seiner Mitmenschen bedenkt." Diese fundamentale Erkenntnis legt Martin Walser in seinem Roman "Muttersohn" einem Patienten eines psychiatrischen Krankenhauses in den Mund. Dreihundert Seiten später ist diese Einsicht zu einem jesuitischen Bekenntnis verkommen: Es ist nicht wichtig, dass Reliquien echt sind, sie werden ohnehin erst durch den Glauben geheiligt. Und es ist der Leiter des Krankenhauses, Professor Augustin Feinlein, der den Reliquien wieder einen Platz in der Gesellschaft verschaffen will. Es geht auch um den Tropfen Blut Jesu, der im ehemaligen Kloster, das nun Krankenhaus ist, über Jahrhunderte angebetet wurde und nun, in Zeiten der Vernünftelei, eine eher versteckte Existenz erfährt, nur einmal im Jahr einer Prozession als Mittelpunkt dient, wo ihm doch früher Tausende ihre gläubige Reverenz erwiesen.

Percy Schlugen ist mit der Vernunft nicht verwandt. Der Krankenpfleger, söhnlicher Freund des Professors, ist ein guter Mensch und Walsers Mirakel: Wie er durch die Gegend rund um den Bodensee wandert, wie er durch seine Schlafsacktherapie - er schläft in dem einen Sack, der Patient in dem anderen in der selben Kammer - die Heilung fördert und wie er gesundbetet. Lange Passagen aus den Schriften der Mystiker, von Seuse über Jakob Böhme bis zu Swedenborg, werden zitiert und memoriert. Um den Sinn des Kranken zu richten, wird ziemlich sinnloses Zeugs verlesen: "Aber innen, in seiner innersten Innerheit, war er erfüllt vom süßen Himmelsgeschmack." Percy ist erfüllt davon, ein Sohn ohne Vater zu sein, ein purer Muttersohn. Und falls der Nazarener, von einer jungfraulichen Mutter geboren, das als Konkurrenz empfinden sollte, lässt er sich lange nichts anmerken. Wie jener geht der Krankenpfleger übers Land und predigt: Das direkte Wort, die Botschaft just in time. Percy ist "geleitet". Zwar sagt es Walser nicht so unverhüllt, wie wir aber dessen Literaturwarenhandlung kennen lernen, kann es sich nur um den HERRN handeln, der da leitet.

Der Autor mag sich mit der Vaterlosigkeit seines Protagonisten nicht begnügen. Mit der Figur des Ewald Kainz, er ist einer der Vielen mit sprechenden Namen im Buch, präpariert der Autor ein einstmals politisches Wesen: Mit der DKP soll er es gehabt haben, ein Berufsverbot bekommen und wegen einer äußerst unglücklichen Doppel-Liebe in jenem Krankenhaus gelandet sein, in dem er auf besagten Percy trifft, der dem Suizidalen Briefe seiner Mutter vorliest, die den als möglichen Vater infrage kommen lassen. Mit Kainz hebt eine Biografie an, die Maßstäbe zu setzen droht und Wege in die Wirklichkeit zu weisen verspricht. Und schon bringt Walser ihn um, lässt ihn gnadenlos fallen. Statt dessen kommt er uns mit dem Kampf von Glaube, Hoffnung und Liebe auf der einen, gegen die böse Ratio, der Verwissenschaftlichung des Lebens, auf der anderen Seite der Barrikade. Das Böse erscheint in Gestalt eines Dr. Bruderhofer, der den Job des Professors haben will, dessen frühere Freundin er geheiratet hat und der natürlich ein wilder Rational-Gardist ist, und eindeutig die schreckliche Moderne, die kalte Aufklärung repräsentiert.

In Walsers Roman passiert unglaublich viel. Aber es geschieht nichts. Wir werden noch beinahe einen Termin mit Gorbatschow haben, werden mit einer guten Biker-Bande bekanntgemacht werden, die später zur bösen Gang mutiert, werden einen total netten Millionär kennen lernen, und natürlich Castro, Lenin und Robespierre begegnen: Alles miese Biker. Es sind Dekorationen, Bühnenbilder, die der Autor beliebig passieren lässt. Kein Leben - nirgends. Nur eine süßliche Künstlichkeit, deren Musik im Himmel spielt. Und am Ende wird Percy auch noch en passant ermordet, als sei das Buch-Stück in einem Tatort gelandet. Ich aber glaube, der Muttersohn des Neuen Testamentes hat einfach die Geduld verloren.