Der kleine Mann ist nicht mit dem kleinen Bürger zu verwechseln: Der kleine Mann ist mehr als eine statistische Größe, er ist der sprichwörtliche Dulder, einer, der allerdings auch anders kann, einer der immerhin mit Fallada schon mal die Frage "Was nun?" gestellt hat, eine Frage, die jene nach dem "Was tun?" nach sich ziehen kann. Die Fragen der Kleinbürger gelten ihrer Reputation, ihrem kleinen Selbst in Wirkung auf die Nachbarn. So klingen ihre Sätze eher nach "Was soll´s?" oder "Warum ich?". Diese Sorte Menschen bevölkert gerne die Romane neuer deutscher Schriftsteller: Marcel Bayer und dessen Ornithologe, Daniel Kehlmann und seine Handy-Besitzer, auch Uwe Tellkamps Personage im DDR-Dresden gehört zu dieser Sorte, wenn auch in Dresden mit mehr Schicksal ausgestattet. In dieser Reihe versucht sich nun auch Peter Henning mit seinem Roman "Die Ängstlichen".

Weil der Kleinbürger, wenn er nicht wenigsten in schicksalhaften Zeiten lebt, wenig eigene Farbe abgibt, sich am ehesten noch in Komödien oder Urlaubs-Liebesromanen bewährt, gibt Peter Henning seiner Arbeit das Grundrauschen der Sintflut. Ständige Regengüsse über Hanau und Umgebung imaginieren die drohende Klimakatastrophe und sollen so den handelnden Personen eine schicksalhafte Dekoration mitgeben. Doch während die biblische Sintflut den Noah kannte, einen Mann, der immerhin den Fortbestand der Erde gesichert haben soll, kennt die Henningsche Sintflut nur gedrückte Menschen und Product-Placement: Noch nie habe ich in einem Roman so viele Produktnamen gelesen, von Otriven-Sprühflaschen über Stonewashed Edwin Jeans bis zum Sony-Fernseher, fast alle gängigen Markenartikel werden erwähnt. Und während der Dauerregen wohl das große Schicksal ersetzen soll, an denen es den Menschen im Roman mangelt, sollen die Produktnamen wahrscheinlich für die Echtheit der Figuren bürgen. Tatsächlich sind sie so echt wie "Werthers Echte" und auch so klebrig.

Johanna Jansen, Mutter und Großmutter, will ins Altenheim umziehen. Ihr jüngster Sohn flieht aus der Psychiatrie. Tochter Ulrike ist hauptsächlich Gattin, leider ist ihre Ehe in Auflösung begriffen. Johannas Sohn Helmut könnte Krebs haben, hat aber keinen. Dessen Sohn Ben ist ein schlechter Journalist. Und irgendwo treibt sich Janek herum, der Hasardeur und polnische Lebensgefährte von Johanna Jansen. Vielleicht, wenn wir ihn näher kennen gelernt hätten, wäre dem Buch jener Atem eingehaucht worden, der heftige Zuneigung oder Ablehnung auslöst, der aus dem geschriebenen Wort Literatur machen kann. Doch Janek, der dem kleinen Mann ziemlich nahe kommen könnte, ist auf der Flucht, es mangelt ihm an Zeit sich uns mitzuteilen. "Wäre sie ein Fisch gewesen, gewesen, ein Rotbarsch, eine Sardine oder ein Schellfisch", teilt uns der Autor mit, "so hätte sich Johanna einer Beschwernis durch Tauchen entzogen". Gern leihen wir dem Autor noch die Fischnamen Hecht, Aal oder Karpfen, denn Redundanz hilft dem Fisch sicher unterzutauchen.

Auch Hephaistos, der griechische Gott des Feuers und des Schmiedens, tauchte einst unter: Als ihn sein Vater Zeus ihn ins Meer warf. Dieser Hephaistos muss als Kronzeuge herhalten, als Rainer, der Mann Ulrikes, im vorliegenden Buch seine sexuelle "Glut entfachen kann". Der Schmied aus antiker Mythologie sollte sich später auch als Geburtshelfer bewähren, Rainer bewährt sich als gar nix, irgendwo, gegen Ende des Buches verschwindet er hinter einer von ihm verschlossen Kellertür. Das konnte nicht ausbleiben, nutzte doch Ulrike häufig ihren "aus strapazierfähigem Kunststoff gefertigten Rainer-Ersatz namens Ladyfinger: 135 Gramm schwer, 165 Millimeter lang und . . . so ansehnlich und vital geformt wie ein sich stramm aus der tabakfarbenen südhessischen Erde aufrichtender Stangenspargel." Hätte doch Hephaistos mit seinem Schmiede-Hammer rechtzeitig den Stangenspargel, der sich hier aus südhessischer Wortkrume empor reckt, in sein tabakfarbenes Beet gekloppt, so hätten wäre uns die wenig ansehnliche geformte Sprache erspart geblieben. Aber auf Götter, zumal griechische, ist eben kein Verlass.

Das ist bei Gott, dem Einzigen, ganz anders. Der taucht auf Seite 381 auf, wird vertraulich "der Alte" genannt und stellt sich Ulrike beharrlich nicht vor. Bestellt ihr aber einen Kaffee mit Amarettoplätzchen (!), um sie über Rainers temporäres Verschwinden zu trösten. Ulrike hat die Orientierung verloren, aber der liebe Gott (der Alte) weiß, dass alles vorbei geht: "Es ist wie eine Wolke, die uns plötzlich einhüllt und uns vorübergehend die Sicht nimmt." Dann verschwindet er aus Ulrikes Sicht und alles wird irgendwie ganz gut. Was nie und nimmer gut wird, ist die Überblendtechnik des Autors. Wie in den Filmen der Regisseure, die ihren Bildern nicht trauen, und den entschlossenen Schnitt durch eine Überblendung ersetzen, so nutzt Henning ständig das Wort "während" für den Szenenwechsel: Während die eine seiner Figuren jenes macht, schreibt er, macht die andere dieses. So kommt man mit seiner Geschichte auch weiter, aber wo gelangt man hin?

Der Autor gelangt zu jenem Ende, das er mit einem persönliche Epilog versieht. Sich aus dem eigenen Roman entfernend stellt er sich über seine Figuren, hat an den meisten kein Wohlgefallen, nur an Johanna, die hat sich schließlich aufgehängt und damit ihre Chance genutzt: "Nur Johanna hatte am Ende ihrem scheinbar vorgezeichneten Schicksal getrotzt". Das reicht ihm an kruder Moral noch nicht und er schiebt nach: "Und das Leben ging weiter, immer weiter, unaufhaltsam". Da hilft dann auch die beste Sintflut nicht. Keine literarische Arche zur Errettung des Lesers, nirgends.

Hinter dem offiziellen Ende des Buches findet sich eine Art Gebrauchsanweisung: Ein Christian Försch führt ein Interview mit Peter Henning, in dem der den Roman erklärt. Henning versichert uns dort, dass die Kleinstadt eine bessere Bühne für den Familienroman sei als die Großstadt oder das Dorf. Als bezögen die Romanfiguren wesentlich aus dem Schauplatz ihre Charaktere. In Herbolzheim ist Tragik möglich, wie auch in Erfurt Geschichte stattfinden kann. Aber ohne wirkliche Charaktere, ohne eine Bindung der Figuren zu den Fragen ihrer Zeit, bleiben die Kleinbürger im Roman das, was sie im wirklichen Leben auch sind: Die matten Spiegel ihrer selbst.