Früher war alles besser. Ein Stoßseufzer, über den sich viele schnell einig werden. Schwieriger wird es dann zu bestimmen, wann dieses „früher“ anzusetzen ist. Für Bibelgläubige müsste es wohl vor Adams und Evas Sündenfall im Paradies liegen, für DAX-gläubige Börsenjunkies reichte vielleicht schon eine zeitliche Umkehr von ein paar Tagen oder Wochen. Zur zeitlichen Dimension kommt noch die des Ortes. „Überall ist es besser, wo wir nicht sind“ hieß mal ein schöner Filmtitel, der mit der Sehnsucht nach Anderswo auch schon deren Unerfüllbarkeit enthielt. Wohin also in Zeit und Raum?

Drehbuchautor Gil Pender (Owen Wilson) in Woody Allens jetzt gestartetem Film „Midnight in Paris“ hat eigentlich alles, was für viele schon das irdische Paradies wäre: Erfolg in Hollywood und eine hübsche junge Verlobte namens Inez (Rachel McAdams), deren schwerreiche Eltern John und Helen den beiden und sich selbst eine große Reise nach „Old Europe“ spendieren; man will in Paris neben anderen Geschäften vor allem den zukünftigen Schwiegersohn näher kennen lernen, richtiger: „evaluieren“. Der freilich sieht sich zu Höherem geboren als zu Hollywood-Lohnschreiberei. Sein noch unfertiger Roman über die „lost generation“ seiner in den 1920er Jahren nach Paris emigrierten Landsleute aus Literatur und Kunst soll auf dieser Reise die fehlende Inspiration erhalten. Inez verbringt derweil die Zeit mit Shopping und einer wieder gefundenen College-Liebe, einem angeberischen Alleswisser namens Paul, während ihre Eltern auf die Pirsch nach Schnäppchen aus teuren Antiquitätenläden gehen. Die schon in diesen Szenen sichtbar werdenden Diskrepanzen in Geschmäckern und Lebensvorstellungen lassen für ein Happyend zwischen Gil und Inez Schlimmes ahnen, nicht zuletzt weil der liberale Schöngeist Gil seinen Schwiegervater in spe ungeniert einen „Tea Party-Reaktionär“ nennt.

Woody Allen hat schon früher sein Geschick im Umgang mit solch unerfüllbaren Sehnsüchten bewiesen, man denke nur an „Purple Rose of Cairo“, in welchem eine arme Kellnerin einen Film mit ihrem Lieblingsstar so lange anschaut, bis dieser von der Leinwand zu ihr ins reale (Kino-)Leben heruntersteigt. Auch Gils Wünsche kann nur das Kino „erfüllen“ – mit einer Zeitmaschine auf Rädern Marke Peugeot: Als er sich beim nächtlichen Bummel durch Paris verlaufen hat und ein Taxi herbeiwinkt, hält stattdessen ein luxuriöses Cabrio mit livriertem Chauffeur, dessen Fahrgäste in ihrer Champagnerlaune Gil kurzerhand zu einer großen Party in die „roaring twenties“ mitnehmen! Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, Gertrude Stein, alle sind da, später auch Dalí und Picasso, Man Ray, Cole Porter und Luis Bunuel, kurz: der komplette Kulturadel jener Zeit.

Der heute 75-jährige Allen spielt nicht mehr selber mit in seinen Filmen, doch in Gil Pender kann man mühelos sein „alter ego“ erkennen. Mit der Hohlheit des Hollywoodbetriebs will er nichts zu tun haben, und mit dem Wort Kultur verbindet er eher den vielfältigen Wildwuchs gewachsener europäischer Traditionen als das aufs Business schielende Entertainment im eigenen Lande. Schon den Filmauftakt bildet eine Folge leicht verwitterter Paris-Ansichten, die von strahlendem Sonnenschein zu regennassen Straßen übergehen, in letzteren findet Gil Paris am schönsten. Nicht zufällig hat Woody Allen nur seine Flugangst jahrzehntelang gehindert, seine Filme auf dem alten Kontinent zu drehen, wo sie auch deutlich mehr Publikum fanden als in den USA. (Dass Allens jüngstes Opus nun in den dortigen Kinos fast doppelt so viel Geld einspielt wie alle seine früheren Filme zusammen, lässt wohl nur einen Schluss zu: Den vielen Pauls, Inez’ und anderen bornierten Yankees liefert er „ihr“ Paris für den Preis einer Kinokarte, seine subtile – und stellenweise auch ganz unsubtile - Nestbeschmutzung dagegen ist außerhalb ihres Horizonts.)

Aber natürlich: Was wäre Paris ohne l’amour? Gil, der nun regelmäßig mit dem Glockenschlag um Mitternacht in seine Welt eintaucht, findet dort die schöne – und im Gegensatz zu Inez auch kluge – Adriana (Marion Cotillard), und was könnte es für ihn Größeres geben als eine Geliebte, die zuvor die Muse von Pablo Picasso war, die nun ihn so liebt wie er sie und mit ihm vergnügt durch die regennasse Seinestadt spaziert? Vergessen sind Inez und die geplante Hochzeit, mit Adriana will Gil leben in ihrer Welt, in der er auch als angehender Schriftsteller geachtet und geschätzt wird. Doch da gibt es ein Problem: So wie er sich in eine frühere Zeit zurücksehnt, hat auch Adriana ihre Wunschvorstellungen an eine andre Zeit gehängt. Nur sind dies nicht die 1920er Jahre, sondern die „Belle Époque“ um 1900! Namen wie Émile Zola, Claude Cézanne und Henri de Toulouse-Lautrec tauchen auf, man begegnet Malern wie Gauguin und Degas. Die wiederum sind ebenso unglücklich in ihrer Zeit und bewundern stattdessen die Zeit der Renaissance. Die Zeitmaschine läuft auf vollen Touren, und ein Detektiv, den Inez’ Vater auf Gils mitternächtliche Spuren gesetzt hat, landet gar am Hofe von Louis XIV! Bevor man dann doch noch bei Adam und Eva landet, hat Allen ein Einsehen und findet eine dramaturgisch zwar etwas holprige, aber durchaus philosophische Lösung für Gils Problem. Denn da gab es doch auch die kleine Verkäuferin in einem schäbigen Antiquariat, die ihm die Cole Porter-Platte verkauft hatte und wie er Paris im Regen am schönsten fand…

Nachbemerkung: Der Begeisterung seiner Landsleute für Prominente, „royals“ und „celebrities“ zollt Allen Tribut, indem er in drei winzigen und eher belanglosen Szenen eine gewisse Präsidentengattin auftreten lässt. Deren Erwähnung fehlt in kaum einer Rezension des Films. Offenbar mögen die Rezensenten Paris auch lieber im Glanz des Élysée-Palastes als im Regen.