Für die Sentenz "Bisweilen sind die Zeitungen so deutsch, als gäbe es uns wirklich" hätte Thomas Lehr den Nobelpreis für Aphorismus verdient. Denn natürlich lässt sich der Begriff deutsch jederzeit durch polnisch oder amerikanisch oder sonst was ersetzen und das Wort Zeitungen durch jede beliebige Spielart vermeintlichen Informationsverkaufs. Thomas Lehr, der wirklich kluge Autor eines Romans über die neue Kriegswirklichkeit in Bagdad und anderswo, hat sich selbst zum Erben von Lichtenberg und Karl Kraus erklärt und beliefert seine Leser unter dem Titel "Grössenwahn passt in die kleinste Hütte" mit einer Sammlung von Sinnsprüchen, die zuweilen an die Kalenderblätter des 19. Jahrhunderts erinnern.
Es ist natürlich eine Marketing-Großmäuligeit, wenn der Verlag auf dem Umschlag behauptet, zwei Sätze könnten einen Liebesroman ersetzen. Ausgerechnet bei einer der banalen Formulierungen von Lehr - "Sex wollen alle. Aber wer kann schon was damit anfangen?" - kam dem Lektor die dumme Idee vom Romanersatz und er schob noch nach, dass der Autor nun "Schluss mit der großen Form" gemacht habe. Wer Lehr 's Oeuvre kennt, das zum besten der neueren deutschen Literatur zählt, kann nur hoffen, dass der vermeintlich Schluss nur eine Brücke zu neuen Romanen bildet.
Zumal neben sehr vergnüglichen Kurz-Tiraden wie "Die Fachidioten werden aussterben. Heutzutage braucht man überall Vollidioten" oder "Leidenschaftlich monogam zu sein, das lasse ich als Kunstwerk gelten" auch mancher Flachsatz ins Buch geraten ist. Zwar mag der Spruch "Lieber tot geweiht als lebend gehörnt" ein Lächeln erzeugen, geht aber kaum über den Kalauer hinaus. Auch der Gedanke Lehr 's "Die Staatsgewalt geht vom Volke aus und kehrt ungern zurück" war schon in Brecht 's Spruch "Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Aber wo geht sie hin?" besser und schärfer gefasst.
In der Hoffnung, Thomas Lehr kehrt schnell zu seiner langen Form zurück, gebe ich für die Zwischenzeit ein kleines Rätsel auf: Welcher der beiden folgenden Sprüche ist von mir und welcher von Thomas Lehr: "Lacht kaputt was Euch kaputt macht" oder "Leben und verleben lassen". Richtige Einsendungen werden mit einem Abonnement der RATIONALGALERIE vergolten. Einer der besten Aphorismen der jüngeren Zeit "Was lange gärt, wird endlich Wut" stammt weder von Lehr noch von mir. Es war ein unbekannter Autor der Hausbesetzer, der ihn an eine Berliner Wand pinselte und er hat mit der kurzen Form eine langes Denken ausgelöst.