Wir sind das Volk!
Und ich bin Volker!
Tags unterschiedlicher Autoren an der Berliner Mauer, Ende 1989.

Da sitzt er nun in Berlin, der Volker Braun, und hat viel erlebt: Den Auf- und den Abbau der DDR, den Verlust von Hoffnungen und den Gewinn von Erkenntnissen. Und lässt nicht ab vom Beobachten, vom Aufschreiben einer wunderlichen Welt, die ihm Sätze beschert wie "Das Volk gab sein Eigentum ab und ließ sich die Freiheit aushändigen". Seinen Lesern händigt der Autor ein schmales, reiches Bändchen aus: Es würde auf den Namen "Flickwerk" hören, wenn es hören könnte, und es fordert zum genauen Hinsehen auf. Immer noch sucht und erkennt der Dichter Widersprüche, sammelt sie und legt sie den Lesern vor. Mit der matter werdenden Hoffnung, aus den Widersprüchen würde sich Widerstand entwickeln und eine Haltung auch.

"Und wer nun da der größte Schalksnarr war, will ich nicht entscheiden", notiert Braun über eine Menge von Arbeitslosen, die dem Jobvermittler aus dem Wege gehen, weil der zwar ein wenig Arbeit anbietet, aber eben nicht für alle. "Sie dachten wohl: keiner oder alle und das war eine verblühte, verblasene Losung." Als ein Narrenschiff empfindet Braun die globalisierte Nussschale mit der wir unterwegs sind, deren Passagiere und Ruderer zwischenzeitlich ähnlich ziellos sind wie Schiffseigner, Kapitän und Steuerleute. Er findet gesunde Arbeitslose, die in einem kranken System ihre Nieren verkaufen wollen, Leiharbeiter, die ihre eigenen Pfänder sind und solche, die den Gürtel so lange enger schnallen, bis sie, blau im Gesicht, tot zu Boden sinken. Der Kurs nach Narragonien ist abgesteckt.

Als vor einiger Zeit die Gemeinde Steinach in Thüringen eine Lastwagenladung Schnee versteigerte, gab es kaum ein Medium, das diese possierliche Nachricht nicht meldete. Die Bürgermeisterin sprach von einer guten Idee, die den Tourismus fördern solle. Der Ort Steinach liegt am Bach Steinach. Das klingt ein wenig nach Tucholsky. Über 300 Steinacher Soldaten starben im Zweiten Weltkrieg, ob es Steinacher unter den deutschen Soldaten in Afghanistan gibt, ist nicht bekannt. Immerhin waren die Steinacher klug genug, den Ort 1945 den amerikanischen Truppen zu übergeben, das vermied Zerstörungen. Dass die 287 ausländischen Zwangsarbeiter in Steinach von den Amerikanern befreit worden sind, ist anzunehmen. Die Steinacher sind wetterfühlig: Ihre Montagsdemos fanden 1989 in der Kirche statt, nicht draußen. Volker Braun kommentiert die Schneeauktion so: "Es sind ja auch Eis und Wasser im Handel, das Recht und die Freiheit und andere leicht verderbliche Waren, die in den Gully fließen."

Im "Übernarr" hat Braun ein neues Wesen gefunden, dass den Zeitläuften angepasst ist, also wohl, so oder so, überleben wird. Der Übernarr hat ein halbgewalktes Weltbild, seine Natur ist "wehmäulig, duckmausend". Viel ist von diesem neuen Geschlecht nicht zu erhoffen. Und doch will Braun die Hoffnung nicht aufgeben, es könne auch aus denen etwas anderes werden als sie sind. Sonst würde er sie nicht mit bitteren Sprüchen erschrecken wollen wie diesem: "Spare in der Zeit, dann hast du immer Not." - Weihnachten droht und nicht wenige Menschen wissen noch nicht, was sie ihren Lieben unter den Baum legen sollen, gleich wer immer dran hängen mag. Volker Brauns Buch "Flickwerk" zählt zu jenen Weihnachtsgaben, die Nebenwirkungen haben können. Auf dem Beipackzettel müsste schon vermerkt sein, dass die Medizin des Autors eher bitter ist und zu schweren Denkanfällen führen kann.


Buchpremiere
WERKTAGE
Volker Brauns Arbeitsbuch von 1977 - 1989
Jutta Hoffmann und Ulrich Matthes lesen
Am 29. November 2009, 11.00 Uhr
Akademie der Künste Berlin
Pariser Platz, Plenarsaal