Mit seinem neuen Buch eröffnet Volker Braun die harsche, große Verhandlung über die Enteignung des Volkes nach dem Ende der DDR durch jene treu genannte Hand, die besser abgefault wäre, noch vor ihrem Griff nach den volkseigenen Betrieben. Denn die DDR, so komponiert es der Schriftsteller in seinem großen Gesang über "Die hellen Haufen", kannte kein Staatseigentum: Dem Staat war "nicht erlaubt dieses Eigentum zu verkaufen. Es war nicht seins. Es war das Eigentum aller", sagt einer von denen, die in Brauns Erzählung eine Streitmacht entlassener Arbeiter begleiten. Auf historischem Boden hat sich der Haufen zusammengetan. Dort, wo die deutschen Bauern und ihre hellen Haufen ihre große und letzte Schlacht schlugen, wo Max Hoelz in den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts die Arbeiter bewaffnet hatte, kämpfen die Enteigneten um jenen Besitz, den sie vorher "nicht besessen haben".
Viele der Handelnden der Braunschen Erzählung gab es wirklich, Namen wie Schurlam oder Schufft weisen den Weg in die jüngste Geschichte. Auch das Sichwehren gab es, im früheren Kali-Kombinat: Grubenbesetzungen, Demonstrationen und der legendäre Hungerstreik in Bischofferode, im Eichsfeld. Doch Brauns hartes Untertagewerk geht über die Wirklichkeit hinaus, ins Denkbare, bündelt aus der kargen Wahrheit die Geschichte eines Aufstandes, der nicht statt gefunden hat, und der mit dem Ruf "Keine Gewalt" ein bittere Niederlage erlebte. "Würde das Zauberwort ein zweitesmal wirken," fragt der Chronist eines Arbeiterkrieges, den es nicht gab, "oder wie ein Witz, den man kennt, seine Kraft verlieren?"
Ob Volker Braun, während der Arbeit an "Die hellen Haufen" geahnt hat, wie ungeheuer genau die Frage nach der Macht und den Mitteln, die man benötigt, um sie zu erobern, in das Jetzt hineinragt? Wer die Empörten in den vielen Ländern beobachtet, wer ihre friedlichen Schritte gegen ihre Enteignung durch die Banken kennt, der fürchtet, dass der Witz zum dritten Mal erzählt wird: Wenige sind es, die sich wehren. Freundlich wirken sie, wo ihre Gegner kalten Gesichts Tausende in jene Freiheit von Arbeit schicken, die das Ende der Hoffnung bedeutet. Höflich besetzen sie diesen oder jenen öffentlichen Platz, erhalten sogar lauen Beifall in den Blättern und Sendern, die ihnen nicht gehören. Gibt es dann doch Diesen oder Jenen, der sich mit der limitierten Freiheit sittsamer Proteste nicht begnügen will, zeigt der Staat, der ihnen nicht gehört, was seine Polizei zu leisten vermag.
Das wundersame Märchen von den "hellen Haufen" kennt keine Prinzessinnen, kein Frosch wird gegen eine Wand geworfen. Und doch steigt aus dem schmalen, reichen Band eine Märchenhöhle auf. Dort, wo der gewöhnliche Gips sich zum zaubrischen Marienglas wandelt, wo die untertäglichen Klüfte zu Logen aus Alabaster geworden sind, in dieser Höhle versammeln sich die Arbeiter des Schriftstellers, um ihre "Mansfelder Artikel" zu verfassen, von denen der dritte lautet: "Nicht den Gewinn maximieren sondern den Sinn." Und einer, der den allegorischen Namen Mintzer trägt, fügt an: "Die Zukunft ist offenzuhalten für Anmut und Mühe." Als die Versammelten sich ihrer früheren Wünsche erinnern, denen nach Reisefreiheit, Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit und wissen, dass die inzwischen erfüllt sind, erkennen sie sich als Hans im Glück wieder, der seinen Klumpen Gold gegen Steine tauschte, die ihm am Ende in den Brunnen fallen: "Mit leichtem Herzen und frei von aller Last ging er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter angekommen war", schrieben die Brüder Grimm auf. Die Last der Arbeit war denen in Bischofferode und ist vielen anderen heute genommen. Von leichtem Herzen kann allerdings keine Rede sein.
Volker Braun liest aus seinem neuen Buch "Die hellen Haufen"
Dienstag ∙ 1. November 2011 ∙ 20 Uhr
In der Akademie der Künste
Pariser Platz 4
10117 Berlin