"Ich bin gewitzt, abgebrüht, ich durchschaue alles. Mich wird nichts mehr überraschen." Diese beiden Sätze leiten das Ende des ersten großen Buches von Christoph Hein ein, das in den 80er Jahren in der DDR unter dem Titel "Der fremde Freund" erschien und in der Bundesrepublik den Namen "Drachenblut" trug. Die Novelle gab die Sicht auf eine DDR frei, die an Gleichförmigkeit litt, an einer Perspektive des Wartens, die nur noch wenige Erwartungen in sich trug. Die DDR schien am Ende ihrer Entwicklung angekommen zu sein. Inzwischen dürfen die ehemaligen Bürger der DDR, gemeinsam mit ihren westlichen Vereinigungspartnern, auf ein abenteuerliches, buntes Deutschland schauen, eines, das jeden Tag große Überraschungen verspricht, allerdings nicht unbedingt solche, die man sich für den Geburtstag wünscht. Mit "Weiskerns Nachlass" hat Christoph Hein eine Geburtstagsgeschichte geschrieben, die einen ähnlich analytischen Blick auf das Land wirft, in dem wir nun alle leben, wie er ihn damals für die DDR reservierte.

Rüdiger Stolzenburg sieht sich an seinem 59. Geburtstag am Ende seiner Karriere angelangt. Er war ein Hochschullehrer mit vielen Hoffnungen. Einer, der bei seinen Studenten Begeisterung wecken wollte und konnte, und er hatte sich, mit einer großen Monografie über Friedrich Wilhelm Weiskern - den Librettisten, Schauspieler und Kartografen - ein essentielles, kulturwissenschaftliches Projekt vorgenommen. An den vorausgegangenen Geburtstagen hatte ihm der Leiter seines Institutes immer eine ganze Stelle, statt seiner halben, eine richtige Professur oder wenigsten den Rang eines Akademischen Rates versprochen, aber an diesem Geburtstag muss er sich einen Vortrag über Drittmittel, über Sponsoren und die mögliche Auflösung des Institutes anhören an dem er arbeitet. Der Protagonist von Heins Roman hat eine "kw"-Stelle, er kann, nach Meinung der Universitätsleitung, getrost wegfallen. Wie auch das Weiskern-Projekt dem Wegfall anheimgegeben ist.

Längst hat der Dozent seinen Elan aufgebraucht. Mag sein, dass es zu Beginn seiner Hochschullaufbahn noch Studenten gab, die seinen Vorlesungen interessiert folgten, doch die Maßstäbe haben sich geändert, in der Gesellschaft und an der Universität. Waren es in Vorzeiten Bildung und Geist, die den Platz eines Menschen oder auch eines Lehrfachs zumindest mitbestimmten, ist der einzig gültige, verbliebene Maßstab das finanzielle Vermögen. Einer seiner Studenten, von Beruf Sohn, verfügt über viel mehr Geld als er. Und Stolzenburg, der ihn hasst, begreift doch die soziale Wirklichkeit wenn er anmerkt: "Es wäre vernünftiger, das Verhältnis umzudrehen, sein Schüler zu werden statt seinen Lehrer zu spielen." Auch, dass er die Mehrheit seiner Studenten mit einem Abschluss entlassen muss, der sie zu einem wahrscheinlich lebenslangen Praktikum verdammt, treibt ihn in die Resignation.

Aber unter der Asche begrabener Hoffnungen lässt Hein eine letzte Glut schwelen, das Weiskern-Projekt, das den Dozenten immer wieder aus dem Trott sich wiederholender Vorlesungen, den sich immer ähnelnden Artikeln und akademischen Gesprächen in das wissenschaftliche Abenteuer zu führen verspricht. Auch aus einem genormten Tagesablauf und einer routinierten Sexualbeziehung lenkt der Autor seine Hauptfigur auf Wege, die Änderung versprechen, von denen Überraschendes zu erwarten sein könnte. Doch wann immer Stolzenburg in die Nähe wissenschaftlicher Fortschritte zu geraten scheint, stolpert er über Geld das er nicht hat, und wenn seine Gefühle dem falschen Glanz der Eintagsliebe entfliehen wollen, sind ihm die eigenen Gewohnheiten im Wege.

Christoph Hein belässt das Ende seines Romans in einer scheinbaren Schwebe. Denn wie immer Stolzenburg sich entscheidet, für das geschrumpfte Sein der letzten Jahre oder für ein kleines Abenteuer mit fremdem Geld, das ihn vielleicht seiner Monografie näher bringt, er wird verlieren: Entweder sein gutes Selbstbild oder sich selbst im traurigen Niedergang der Wissenschaften. Das bunte, neue Deutschland hält, so erzählt Heins Buch, weniger Alternativen bereit, als viele ihm vor langer Zeit zugetraut hatten.