Nach einem Artikel von Knut Mellenthin in der Jungen Welt (Politik der Vereinfachung) zu Sahra Wagenknechts Rhetorik kritisierte Uli Gellermann den Text in der RATIONALGALERIE (Junge Welt im Klassenkrampf). Mellenthin antwortete auf diese Kritik. Gellermann reagiert auf diese Zuschrift,

MELLENTHIN

Lieber Uli Gellermann,
 
Dein Text gegen meine „Wagenknecht-Diffamierung“ scheint mir nicht nur die aktuellen, sondern darüber hinaus auch die grundsätzlichen Grenzen politischer Kommunikation aufzuzeigen. Für mich hat „Diffamierung“ immer etwas mit falschen Behauptungen zu tun. Für dich offenbar nicht. Es geht in deinem Text nicht darum, dass ich etwas geschrieben habe, was nicht stimmt, sondern dass ich am Heiligenschein einer „Lichtgestalt“ gekratzt habe und Blech unter dem Blattgold zum Vorschein kam. „Lichtgestalt“, das habe ich mir jetzt nicht etwa gemeinerweise ausgedacht, sondern das kann man wirklich in Lobpreisungen ihrer Anhänger lesen.
 
Sahra Wagenknecht arbeitet mit falschen Tatsachenbehauptungen und oberflächlichen Verallgemeinerungen, die eine andere Form falscher Aussagen sind. Nicht in ganz wenigen Ausnahmefällen, sondern regelmäßig und systematisch. Es ist ein Grundelement ihrer Rhetorik und ist meiner persönlichen Vermutung nach, aber das nur unter uns gesagt, auch ein wesentlicher Grund ihrer außerordentlichen Beliebtheit bei Menschen, die an ihr nur zu kritisieren haben, dass sie in der falschen Partei sei. Ich kenne etliche dieser Menschen seit Jahren und weiß, welche Einstellungen und Urteile sie dort zum Klingen bringt. Daran denke ich, wenn S.W. sich immer wieder auf den „gesunden Menschenverstand“ beruft, den aus meiner Sicht vom „gesunden Volksempfinden“ keine chinesische Mauer trennt.
 
Mein Text sollte ein Aufruf zu mehr Wahrhaftigkeit und Genauigkeit in der linken Politik sein. Ich denke dabei an einen (zu dieser Zeit schon ehemaligen) Funktionär der verbotenen und unterdrückten KPD, der mir 1968 sagte: „Kommunisten müssen nicht alles sagen, was wahr ist. Aber was sie sagen, sollte wahr sein.“ – Der Mann war gelernter Zimmermann und übte diesen Beruf als Leiter einer Baukolonne auch tatsächlich bis zum viel zu frühen Eintreten seiner Berufsunfähigkeit durch Amputation eines Beines aus. Menschen dieser Art sind in der Politik leider sehr selten geworden.
 
Warum aber habe ich mich in meinem Text nur mit S.W. beschäftigt, obwohl das Verdrehen von Tatsachen, das Unterstellen, das Verallgemeinern, das Lügen in der Politik allgemein üblich und anscheinend unausrottbar sind? Weil ich nicht Politik ganz allgemein verändern will – das wäre von vornherein aussichtslos -, sondern weil ich seit 52 Jahren linke Politik zu beeinflussen versuche, und weil es sogar jetzt noch, nach ihrem Teilrückzug, niemand aus ihrer Partei auch nur annähernd mit ihrem Einfluss auf die „öffentliche Meinung“ in all ihren Gestalten aufnehmen kann.
 
Beste Grüße
Knut Mellenthin

GELLERMANN

Lieber Knut Mellenthin,

herzlichen Dank für Deine Zuschrift. Eine ganze Reihe Deiner Artikel habe ich mit Gewinn gelesen: Sie sind häufig informativ, analytisch und gut recherchiert. In Deinem Text zu Wagenknecht fällt auf, dass Deine Recherche zuweilen Inhalte so verkürzt, dass sie aus der Information ruck-zuck in die Meinung geraten. Zwei Beispiele aus einem Stern-Interview, das Du verwendest, um Wagenknecht eine „Politik der Vereinfachung“ zu unterstellen.

Du schreibst, „Wagenknechts Suggestion, »Sicherheit« sei ein Zustand der Vergangenheit, der uns hauptsächlich durch die »unkontrollierte Zuwanderung« verlorengegangen (sei)“. Zwar redet sie im Stern auch von der Zuwanderung, aber im selben Absatz sagt sie: „Ebenso fatal ist die Außenpolitik: die von Merkel unterstützten Ölkriege der USA und ihrer Verbündeten, denen der ‚islamische Staat’ erst seine Existenz und Stärke verdankt.“ Vollständig zitiert gewinnt das Interview eine andere politische Farbe.

Im selben Interview erwähnt sie einen weiteren Aspekt des Flüchtlingsthemas: „Ich habe in Flüchtlingsheimen mit Syrern gesprochen, sie waren tief frustriert, weil sie nach Monaten immer noch dort saßen und teilweise noch nicht mal einen Deutschkurs machen konnten. Sie haben mich gefragt: Warum hat Frau Merkel uns eingeladen? Merkel hatte keinen Plan und kein Konzept, das war letztlich schlimmer als nur leichtfertig. Ihre Politik hat viel Unsicherheit und Ängste erzeugt und die AfD groß gemacht.“ Über diese Seite der Merkel-wir-schaffen-das-Politik magst Du in Deinem Wagenknecht-Artikel nicht nachdenken. Solcherlei Verkürzungen sind dann „Tatsachenbehauptungen und oberflächliche Verallgemeinerungen, die eine andere Form falscher Aussagen“ sind.

Vielleicht deshalb kommst Du in Deinem Text zu diesem Kurz-Schluss: „In der Praxis gibt es keine Anzeichen, dass es Wagenknecht gelungen wäre, die AfD-Wähler zu erreichen, was sie ja selbst als eines ihrer zentralen Ziele deklariert hat.“ Fraglos sind die Flüchtlinge das einzige Thema, mit dem die AfD groß geworden ist. Es wäre Aufgabe aller Linken, jene AfD-Wähler zu gewinnen, die sozial und politisch nicht zu dieser NATO-Partei gehören. Diesen Job nur Frau Wagenknecht anzuhängen, ist leichtfertige und simple Agitation.

Wenn Du in Deiner Zuschrift Frau Wagenknecht mit dem „gesunden Volksempfinden“ der Nazis in Verbindung bringst, verlässt Du jene linke Solidarität, die Voraussetzung für jenen gemeinsamen Kampf ist, den wir noch vor uns haben.

Lieber Knuth, ich freue mich auf Deinen nächsten Artikel, er muss ja nicht von Frau Wagenknecht handeln.

Beste Grüße, Uli Gellermann