Ein kleines, ärmliches Dorf an der bulgarisch-türkischen Grenze. Dort in der rauen Berglandschaft lässt der bulgarische Regisseur Stephan Komandarev seine Geschichte spielen: Als Mityo (Assen Blatechki) mit Mitte Vierzig seinen Job als Milchfahrer verliert, steht seine gesamte Existenz auf dem Spiel. Sein achtzehnjähriger Sohn Vasko hält ihn schon lange für einen Versager. Aber er weiß fast nichts über seinen Vater. So auch nicht, dass der sein ganzes Geld für die Behandlung seiner krebskranken Frau Franka ausgegeben hat, die aber vor kurzem dennoch gestorben ist. Für Mityo scheint es nur noch einen Ausweg zu geben, nämlich das gefährliche Angebot seines ehemaligen Armee-Captain anzunehmen, der von Miki Manojlovic brillant infam und undurchsichtig gespielt wird. Manojlovic ist vielen Kinogängern sicher noch aus Emir Kusturicas Film „Underground“ von 1995 in Erinnerung, wo er einen skrupellosen Schwarzmarkt-Händler spielt oder als Sex-Club-Besitzer neben Marianne Faithfull in „Irina Palm“ von 2007.

Für den Film „Judgment – Grenze der Hoffnung“, der bildgewaltig und episch eine Tragödie im klassischen Sinne erzählt, ist es sicher von Vorteil, dass die Balkan-Schauspiellegende Miki Manojlovic eine der drei Hauptpersonen im Drama von Schuld, Verrat und Versöhnung spielt. Für diesen ehemaligen Armee-Hauptmann soll Mityo Flüchtlinge aus Syrien illegal über die nahe Grenze zwischen der Türkei und Bulgarien in die EU schleusen. Für den gutmütigen Mityo ist das eine folgenschwere Entscheidung. Denn der Weg führt durch das Grenzgebiet am sogenannten Judgment-Felsen vorbei, in jener südbulgarischen Gebirgsregion, die im vorigen Jahrhundert eine der wenigen echten Ostblock-Außengrenzen zum kapitalistischen Ausland war und deshalb als ebenso scharf bewacht galt wie man das von der innerdeutschen Grenze kannte. Dieses Felsmassiv erinnert Mityo immer wieder an ein schreckliches Verbrechen, an dem er – gegen seinen Willen – selbst beteiligt gewesen war als junger Wehrdienstsoldat, der eine der härtesten Grenze des Kalten Krieges zu verteidigen hatte.

Der Film beruht laut Stephan Komandarev auf einer wahren Geschichte. Aufbauend auf drei Dokumentarfilmen, die in dieser unwirtlichen Gegend entstanden, hat er als Regisseur und Drehbuchautor selbst zwei Jahre verbracht und eine Menge authentischer Berichte gesammelt, um sie in den Film einfließen zu lassen. Er sagt: „Es ist die Geschichte eines Mannes, der vor 25 Jahren etwas Furchtbares getan hat während er dort seinen Militärdienst ableisten musste. Sein Sohn ist erst nach der Wende geboren worden. Und nur sehr langsam und mit Hilfe vieler Fragen versteht er erst die Wahrheit hinter der Vergangenheit seines Vaters. Für mich ist das Vater-Sohn-Verhältnis eines der wichtigsten Elemente im Film. Denn ich selbst habe zwei Kinder, die mich immer wieder nach den gesamtgesellschaftlichen und den sozialen Bedingungen fragen. In gewisser Weise handelt es sich vielleicht aber auch um ein „Roadmovie“. Denn der Grenzübergang in dieser Gegend war damals der Fluchtweg von Ungarn bis hin zur Türkei, für Menschen, die damals dem Kommunismus entfliehen wollten.“

Und jetzt gut 25 Jahre später sind es also die Menschen, die auf ihrer Flucht aus Syrien und den angrenzenden Krisengebieten den selben gefährlichen Landweg wählen – aber in umgekehrter Richtung – um das vermeintliche „Paradies Europa“ zu erreichen. Jetzt hilft Mityo Menschen die Grenze zu überwinden, die er einst mit brutaler Waffengewalt verteidigt hat und wird dabei immer wieder von den Schatten der Vergangenheit heimgesucht. Sobald die Flüchtlinge das Gebirgsmassiv bei Sturm und Nebel, meist kriechend überwunden haben, um nicht in das Sichtfeld der Such-Kameras zu geraten, mit denen die Grenzer auf Bergrücken hantieren, lässt Miya die Menschen in seinen umgebauten Milchtransporter klettern. Und das solange bis die Grenzer wahrscheinlich an der Rumänischen Grenze zugreifen.

In „Judgment – Grenze der Hoffnung“ zeigt Komandarev packend und detailgenau das karge Leben der Menschen dieser Region und gibt dabei auch den neuen Flüchtlingen ein Gesicht. Aber zweifellos ist es auch ein spannendes Kapitel Vergangenheit, das Mityos Sohn aufdeckt, als er zwei DDR-Reispässe in den Sachen seines Vaters findet und dadurch erfährt, dass sowohl sein Vater als auch der einstige Armeehauptmann am Verschwinden eines jungen Paares beteiligt waren. Dieses aufrüttelnde Geschichts- und Gegenwarts-Drama wurde von Bulgarien, Deutschland, Kroatien und Mazedonien 2014 gemeinsam produziert. Es bleibt zu hoffen, dass der Film als ein Mosaik-Steinchen im Verbund mit anderen ehrlich gemeinten Warnungen vor falschen Versprechungen von einem „Paradies Europa“ seinen Beitrag leisten kann.