Ob die denn noch zu retten ist, fragen sich viele, die der Linkspartei in den letzten Monaten beim Streiten zugesehen haben. Mancher Wähler in Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz hatte sich schon für ein Nein entschieden. Tatsächlich würde mit dem Untergang der Linkspartei eine seltene Spezies der deutschen Parteienlandschaft verschwinden: Die einzige Bundestagspartei, die sich eindeutig gegen den Afghanistankrieg und andere imperiale Gesten Deutschlands wendet und zugleich jene politische Formation, die vor und nach der Finanzkrise eine klare Position gegen die herrschende Marktideologie einnahm. Im ansonsten eher artenarmen Parlament der Republik - wer gravierende Unterschiede zwischen den Restparteien ausmachen kann, muss über sehr gute Augen verfügen - würde die Politlandschaft weiter verkarsten, wenn die LINKE über die eigenen Beine stolperte.

In einer "Streitschrift zum Programm der Linken" erinnert der Bundestagsabgeordnete und Herausgeber Wolfgang Gehrcke daran, dass die LINKE immer noch eine "Partei in der Entstehung" sei und deshalb, rund um ein neues Programm, eine kräftige innerparteiliche Debatte brauche, um zu aktionsfähigen Gemeinsamkeiten zu gelangen. Und angesichts des Kadavergehorsams in der CDU-CSU in der die Mitglieder immer noch an der atomaren Kröte schlucken, der inhaltsleeren Personalwende in der FDP, der Tabuisierung der Hartz IV-Vergangenheit in der SPD, und einer Euphorie-Harmonisierung der GRÜNEN, die jede politische Festlegung vermeidet, um nur ja die schönen Umfragewerte zu bewahren, könnte man sich über das muntere Hauen und Stechen in der LINKEN freuen, wenn es denn durchweg Sinn und Verstand verströmte und über eine Personaldebatte hinausginge. Die vorliegende Streitschrift ist wahrscheinlich deshalb sehr auf den Inhalt zentriert und findet eine Sprache, die auf Dialog setzt.

Und Dialog scheint dringend geboten in einer Partei, die, wie Gehrcke eingangs schildert, mindestens drei klare Fraktionen hat: Die "Antikapitalistische Linke (AKL)", deren bekannteste Vertreterin Sahra Wagenknecht auch einen der Aufsätze im Buch formuliert hat; das "Forum demokratischer Sozialisten (fds)", eine Gruppierung des rechten Flügels, deren Frontmann wahrscheinlich der Berliner Klaus Lederer ist, und schließlich die "Sozialistische Linke (SL)", die unter den Autoren des Buches die Mehrheit stellt. Und während Gehrcke sich nur geringere Sorgen um eine formelhafte Beharrung auf Glaubenssätzen bei der AKL macht, scheint ihm beim "fds" dessen Hoffnung auf Reformfähigkeit des Kapitalismus ein grundsätzliches Problem zu sein. Tatsächlich ist eine Reform des Kapitalismus wenig wahrscheinlich: Kriege, Genozide und Hunger pflastern seinen Weg. Alles Übel, die aus dem dringenden Bedürfnis des Kapitals nach Profit entspringen. Diese Haltung zu reformieren, erscheint so realistisch, wie das Beten zur Verhinderung eines Vulkanausbruchs. Wer in diesen Tagen in Japan den AKW-Betreiber TEPCO beim Lügen und Betrügen beobachtet, wer zuschauen muss, wie Unternehmen und Staat lange Zeit auf die Rettung des AKW und nicht auf die Rettung der Bürger orientierten, der weiß, wie reformunfähig der Kapitalismus ist.

Der Politikwissenschaftler Elmar Altvater macht in seinem Beitrag die enge Verbindung der Rohstoffgier des Kapitalismus und den Kriegen der letzten Jahre deutlich, um den Begriff des "Energieimperialismus" zu prägen. Wenn die deutschen Medien zur Zeit über Millionen Euro aus Deutschland für den usbekischen Diktator Karimow berichten - gezahlt um den deutschen Stützpunkt für den Afghanistankrieg in Usbekistan zu behalten - dann wird nicht nur das wohlfeile Geschwätz der Regierung über die "Demokratiebewegungen" entlarvt, die man unterstützen wolle. Auch die von Altvater argumentierte militärische Sicherung der Energienetze in "Pipelinistan" (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, etc.) findet in der Millionenspende für die usbekische Diktatur ein neues Beweismittel. Vorzüglich dazu passend erinnert Sarah Wagenknecht deshalb in ihrem Artikel daran, dass laut "emnid" noch im August des letzten Jahres 88 Prozent der Deutschen eine "neue Wirtschaftsordnung" wünschten und stellt die ironische Frage, ob denn nur durch ein paar "bessere Regeln" die Deutsche Bank zum Beispiel zum Mittelstandsförderer werden könne.

Es sind nur drei Frauen, die in der Streitschrift mit ihren Positionen vertreten sind, aber die sind auch gleich von jener Leidenschaft geprägt, die dem Gefühl einen gerechten Platz neben dem Verstand einräumt. Die frauenbewegte Christel Buchinger klagt diese Leidenschaft ein, wenn sie die trockene Sprache des Programmentwurfs kritisiert und fragt rhetorisch, warum die Leute denn von Sonne, Sand und Meer träumen, wenn sie dann doch nur am mallorquinischen Ballermann landen. Ihre Antwort: Es gibt eine Erzählung, ein Versprechen auf bessere zwei Wochen im Leben. Und wenn, schreibt Buchinger, der Programmentwurf der Linken ein gutes Leben einfordert, dann sollte er gefälligst auch eine Geschichte vom guten Leben erzählen. Tatsächlich stünde es der LINKEN gut zu Gesicht, wenn ihr Programm sich oberhalb der mechanischen Formulierungen anderer Programme bewegte. In den Sätzen der Autorin Christiane Reymann ist diese bewegende Sprache zu finden, wenn sie mit Grausen vom Besitz an Babys erzählt, von der kapitalistischen "Menschenmacherei", die sie mit nüchternen Fakten grundiert: 45 Millionen Dollar haben US-Amerikaner in gefrorenes Sperma investiert, die Kosten für Leihmütter spiegeln die Verhältnisse von Arm und Reich ebenso, wie die von Reymann erwähnten "Schnäppchenkinder", die man über >preisvergleich.de< kaufen kann.

Wie immer ist der Rezensent ungerecht, wenn er aus einer Vielzahl vonm Beiträgen nur einige wenige erwähnt, weil man ja sonst das Buch nicht mehr lesen müsste. Doch muss noch auf die Fragen von Harald Werner nach dem "Subjekt der Veränderung" hingewiesen werden, auch darauf, dass er in den Menschen, die in der Bildung, der Kultur und dem Gesundheitswesen arbeiten, jene gefunden zu haben glaubt, die mit Marx sagen könnten "Ich bin nichts und müsste alles sein." Das Plädoyer des Kulturmanagers Dieter Dehm für die Einbeziehung des "organischen Intellektuellen (Gramsci)" in den Veränderungsprozess stützt die bei Werner geforderte Breite in der politischen Arbeit nachdrücklich. Schließlich ist es der Politikwissenschaftler Frank Deppe, dessen Bekenntnis zu "Freiheit und Sozialismus" sich abgrenzt von der Anything-goes-Freiheit" des Libertären, der marktorientierten Karikatur der Freiheit. Auch wenn der große, alte Journalist Eckehard Spoo in der Streitschrift scharfzüngig auf die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Medien hinweist, fehlt doch ein Aspekt im vorliegenden Buch, wie er auch im Programm fehlt: Die Analyse der linken Medien (über die LINKE hinaus) und deren erbärmliche Schwäche. Es wird sich im Land nichts gravierend verändern, wenn sich seine Intellektuellen ihre Meinungen vorwiegend aus der "Zeit" und der "Süddeutschen" abholen (auch wenn beide schon das Beste der Mainstream-Medien liefern), und wenn die weniger Gebildeten ihren politischen Kompass primär in privaten TV-Sendern und den Springer-Zeitungen finden. Aber noch diskutiert die Linkspartei. Bis zur Verabschiedung des Entwurfs im Herbst, bis zur Rettung der LINKEN auf einen gemeinsamen Standpunkt, bleibt noch ein wenig Zeit.