Sie sitzen in einem Café. Autos fahren vorbei, jemand raschelt mit einer Zeitung. Leise klirrt ein Löffel an Porzellan. Es ist alles wie immer. Und doch sind Sie weit, weit weg, in einem fernen Land in einer fernen Zeit, ein Buch ermöglicht Ihnen die Reise in das China des beginnenden 20. Jahrhunderts. Noch ist das große Reich ein zerrissenes Land, Beute fremder Mächte und Schauplatz innerer Kämpfe. Doch mit James Anderson, dem Vater des britischen Historikers Perry Anderson, kehren Sie zurück in die Zeit des klassischen Imperialismus, zum "Chinese Maritime Custom Service", einer ausländischen Zollbehörde, die das Wirtschaftsleben des vorkommunistischen China steuerte und beherrschte, dem Arbeitsplatz seines Vaters. Mit "Eine verspätete Begegnung", einem Buch, mit dem Perry Anderson an seinen Vater erinnert, beweist der Berenberg-Verlag erneut seine Kunst der intellektuellen Entführung.

"In China ging es mittlerweile ähnlich zu wie in Irland", merkt der Autor lakonisch an und setzt so, Anfang der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts, die Herrschaft fremder Mächte und den Kampf dagegen in zwei sehr verschiedenen Kontinenten gleich. Der Druck Japans auf China, der Versuch der westlichen Mächte China zum dauerhaften Ausbeutungsobjekt zu machen und die Rivalitäten verschiedener Warlords, lassen die "Kuomintang" entstehen, die erste Partei Chinas, in der sich anfänglich unterschiedliche Strömungen auf ein Ziel einigen konnten: Die Befreiung des Landes. Die Aufzeichnungen seiner Familie ermöglichen dem Autor, einen privaten und doch auch politischen Blick auf jene Zeit: "Der Konflikt (der Boykott englischer Waren, der allgemeine Streik) . . . wird von allen Chinesen" erörtert, schreibt der junge Zollinspektor auf und entdeckt so die umfassende Politisierung eines Landes, das den Schritt in den Nationalstaat noch vor sich hat.

Die "Kuomintang", das große Befreiungsbündnis, unterstützt von der jungen Sowjetunion und der chinesischen KP, zerfiel, als sie unter Tschiang Kai-shek den Kommunisten den Kampf erklärte, den ausländischen Mächten das Ende von Boykott und Streik zusicherte und ihnen so die Rückkehr zu den alten Verwertungsbedingungen anbot. Während sich der Vater Andersons über seinen "zauberhaften, ziemlich überwucherten Garten" freut und auf seine Frau wartet, merkt er auch an, dass der fünfundzwanzigjährige Deng Hsiao-ping "durch die Hintertür" in China eingetroffen war. Deng, dessen große persönliche Macht der Volksrepublik Jahrzehnte später eine weitere Revolution verschaffen sollte - jene der partiellen Privatisierung - betrat damals die Bühne der Geschichte. Das Buch enthält eine außergewöhnliche Melange von Hibiskus, Kamelien und Bougainvilleen auf der einen Seite. Und auf der anderen die Nachzeichnung historischer Ereignisse, die die Wurzeln des Vietnamkrieges ebenso erinnern wie den von den ausländischen Mächten unterstützten Diebstahl des chinesischen Staatsschatzes und sein Transport nach Taiwan, der Insel, die von den Amerikanern später "Nationalchina" genannt werden sollte.

Zweimal schon hat der Ober mit nachhaltigem Räuspern darauf hingewiesen, dass nur eine Tasse Kaffee nicht zu einer Lesereise von mehr als zwei Stunden berechtigt. Ihr Kopf taucht aus dem schmalen Band auf. Kanton, so steht es auf der letzten Seite, wurde durch die Volksbefreiungsarmee eingenommen, China setzte sich auf die Tagesordnung der Weltpolitik, das große Land erreichte die Moderne. Alles schien damals so klar, die Bösen waren die Imperialisten, die Guten waren in der Kommunistischen Partei. Und auch, wenn es heute komplizierter ist, bleibt aus jener fernen Zeit eine schlichte Lehre: Die Völker müssen ihr Schicksal selbst bestimmen. Einmischungen von außen enden im Blut der Befreiung. Ach ja: Geben Sie ein Trinkgeld wenn Sie können, für so viel Zeit, für so wenig Kaffe und für solch eine lange, ungestörte Reise.