Schade, dass es nicht im Himmel einen Schalter gibt, bei dem man sich erkundigen kann, wie es unten nun wirklich gewesen ist.
Kurt Tucholsky
Mit reichlich Brimborium wurde zuletzt die geheime Autobiografie Mark Twains angekündigt, die all das enthalten sollte, was der Satiriker seinen Zeitgenossen nicht zumuten konnte. Angeblich hatte der alte Knabe verfügt, nach seinem Tod mit der Veröffentlichung ein Jahrhundert abzuwarten, bis die Leserschaft für diese Lektüre reif sei. Handelt es sich um den literarischen Knüller des Jahres oder nur um einen raffinierten Marketingtrick der Verlagsindustrie aus Anlass des Jubiläums?
Über die optische und haptische Anmutung des zweibändigen Werkes (Band 2 enthält den Anmerkungsapparat) kann ich unseren LeserInnen leider nichts Authentisches berichten, weil mir nur ein Ausdruck der PDF-Datei vorlag.
Die Herausgeber des amerikanischen Originals haben verschiedene ältere autobiografische Aufzeichnungen und späte Diktate des Autors in halbwegs chronologischer Abfolge ungekürzt zusammengeführt und ausgiebig kommentiert. 16 Übersetzer haben die amerikanische Ausgabe ins Deutsche gebracht, über 700 Seiten Text und 400 Seiten Kommentar. Aber nicht deshalb wirkt das Werk inhomogen.
Entgegen den Ankündigungen handelt es sich um ein Konvolut aus verschiedensten Manuskripten. Erhebliche biografische Lücken und überflüssige Dubletten verstärken den Eindruck des Unfertigen. Wer braucht schon die zweimalige minutiöse Schilderung einer Florentiner Villa? In den Text hat der Autor Mark Twain ganz modern Vorträge, Briefe und Zeitungsberichte montiert. Später wird John Dos Passos in seiner Trilogie „USA“ diese Arbeitsweise perfektionieren. Übrigens sind die Zeitungsartikel nicht sämtlich im Apparat erschlossen. Historisch-kritische Ausgaben sahen früher anders aus.
Wenn man dem Vorwort trauen darf, handelt es sich nur um Band 1 der dreibändigen amerikanischen Ausgabe der Autobiografie, aber der umfangreichen editorischen Notiz ist nichts über die beiden Folgebände zu entnehmen. Immerhin erfahren wir, dass schon vor vielen Jahrzehnten Auszüge aus den autobiografischen Schriften Mark Twains erschienen seien, allerdings bearbeitet in usum Delphini.
Trotz dem vollmundigen Versprechen des Autobiografen, er werde sich Casanova und Rousseau zum Vorbild nehmen, findet sich kein Wort über die Puffs im Wilden Westen. Und von Mark Twains Seelenleben erfahren wir rein gar nichts. Stattdessen bürstet er die High Society, in der er verkehrt, gegen den Strich und walzt Gesellschaftsanekdoten seitenlang aus, gekonnt witzig-boshaft, aber für uns hier und heute von geringem Interesse. Immerhin bekommt der Vater der Revolverblätter, William Randolph Hearst, sein Fett weg und John D. Rockefeller wird als Sonntagsschullehrer abgeschildert. Und er kolportiert gern fremde Bonmots. „Ich habe sagen hören, Wagners Musik sei besser, als sie klingt.“
Eine Beschreibung seiner Reisen nach Deutschland habe ich sehr vermisst. An der Beerdigung der Kaiserin Sissi hat Mark Twain teilgenommen und witzelt über die kunterbunten k.u.k.-Uniformen.
Weil Mark Twain für seine Autobiografie vermutlich eine nichtlineare Struktur anstrebte, oder auch deshalb, weil er uns eher über seinen Zigarrengeschmack aufklären will, als über seinen Lebensweg, kämpft man sich streckenweise indigniert durch ein amüsant-wüstes Potpourri. Die Florentiner Aufzeichnungen machen müde. Aber nach knapp 100 Seiten beginnen die New Yorker Diktate und die Autobiografie gewinnt an Leben.
Es ist lehrreich zu lesen, dass die Stimmabgabe bei der Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten um 1880 ähnlich ablief, wie 1980 bei den Volkskammerwahlen in der DDR. Sie war öffentlich. Jeder Zuschauer konnte sehen, wen man wählte, denn Demokratie muss transparent sein. Wenn dann die Gemeinde dem Gruppenzwang gehorchend republikanisch votierte, der Geistliche aber demokratisch, konnte er ziemlich sicher sein, anschließend von ihr abgesetzt zu werden. Solche Anekdoten machen den Unterhaltungswert einer Autobiografie aus.
Wie kommt es nun dazu, dass dieses Halbfertigprodukt in den Staaten angeblich begeistert aufgenommen und im Erscheinungsjahr 2010 über eine halbe Million Mal gekauft wurde? Das ist einfach zu erklären. Zum einen sind E-Books in den USA anders als in Deutschland erheblich billiger als gedruckte Bücher. Und außerdem ist Mark Twain integraler Bestandteil des amerikanischen nation building, welches sich dem Sezessionskrieg anschloss. Z. B. darf man vermuten, dass sich die US-amerikanische Leserschaft der Gegenwart, gut vorbereitet durch Hollywood und die Highschool, für Mark Twains ausführlichen Bericht über seine Bekanntschaft mit den Generalen Ulysses Simpson Grant und William Tecumseh Sherman brennend interessiert.
Gesetzt dagegen, es fände sich eine Autobiografie Wilhelm Buschs, aus der hervorginge, dass er mit Moltke und Roon befreundet war, so würde sich die Begeisterung der hiesigen LeserInnen vergleichsweise in Grenzen halten, weil die deutsche Geschichte seit der Reichsgründung bis zur Wiedervereinigung negativ assoziiert wird.
Die geheime Autobiografie ist der ideale Lesestoff für ausgepichte Mark-Twain-Fans und eine trübe Quelle zur nordamerikanischen Geschichte.