Das Wort Kraft fällt einem ein. Auch solche Wörter wie ernst, schneidend und mutig. Kathrin Gerlof hat ihren zweiten Roman vorgelegt. Schon der erste bewies überzeugend das Talent der Autorin. Aber ob jemand wirklich das Zeug hat, Schriftsteller zu werden, das zeigt sich zumeist erst an der zweiten publizierten Arbeit. Oder eben auch nicht. Die Gerlof hat sich mit ihrem neuen Roman "Alle Zeit" die Eintrittskarte in den exklusiven Club der deutschen Schriftsteller von Rang erschrieben.

Die mit den grünen Haaren ist schwanger, sie trifft auf die Frau mit der wachsenden Vergesslichkeit. In einem verschneiten Park. Für einen Moment nur berühren sich zwei Lebenslinien, die enger verbunden sind, als die Frauen ahnen. Es sind Leben in Deutschland, in einem kenntlichen Land, schwer in Geschichte wurzelnd und rasend privat. Langsam verliert die eine der beiden Frauen alles, was menschliches Leben ausmacht: "Wissen Sie, wie viele Dinge in dem Wort Frau verborgen sind? Auen, rau und au. Ich übe Worte finden, weil mir so viele verloren gehen", sagt die Alte und aus der scheinbar kargen Sprache der Gerlof quillt üppig all das Leid der Demenz jener, die wissen, dass ihnen Erinnerung und Worte verschwinden und auch alles Mitleid, das die Autorin hinter den Worten diszipliniert hat, um es zu fassen.

Es ist eine seltsame Kette von Frauen, die von der Schwangeren im Heute bis zur Urgroßmutter in jene Zeit reicht, die immer eher noch `Kriegsende´ oder `nach dem Krieg´ heißt, gleich, was politisch sinnvoller wäre. Das Ende des letzten großen deutschen Krieges gab der Urgroßmutter, die jetzt in einem Pflegeheim einsitzt und im Gefängnis vergehender Gedanken, einen schweren neuen Anfang. Ein "Russenflittchen" war sie, eine, die ihrem Kind die notwendige Nahrung mit ihrem Körper erkaufte. So begann für sie das, was anderswo `die neue Zeit hieß´. Und zugleich fuhr sie als Agitatorin übers Land ". . . und versucht, den Menschen zu erklären, was sie tun müssen. Zum Beispiel müssen sie die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher fordern." So zog sie, weniger willentlich als zufällig, doch mit der neuen Zeit.

Zwischen der ganz Alten und der ganz Jungen gliedern Mutter und Großmutter der Schwangeren die Zeit: Gemeinsam fahren sie in ein Dorf aus lauter Vergangenheit, um in einem Haus, in dem die Urgroßmutter gewohnt hat, Erinnerung zu finden, vielleicht auch verlorene Wärme, etwas, aus dem Familie gemacht sein kann, Zusammenhalt und Weitergeben. Hie und da gibt der Roman auch Männern einen schmalen Platz. Aber das Zeugen spielt der Autorin eine geringere Rolle, das Gebären scheint ihr der mächtigere Akt zu sein. Doch spendet sie uns auch eine kleine Liebesgeschichte, die nicht ohne Mann auskommt und von jener Liebe zeugt, die aus dem Trost gemacht ist, nicht allein zu sein.

Mitten zwischen den gemeißelten Sätzen eines schmalen und doch reichen Buches findet die Gerlof Zeit für einen kleinen Sprachexkurs, wenn sie über den "faulen Konjunktiv" nachdenken lässt: "Den mit würde." Das ist eine der raren Stellen, an der die Schriftstellerin ein wenig über ihr Arbeiten verrät: Unerbittlich muss sie an den Wörtern gezerrt und die Sätze gezurrt haben, um jene Suche der Schwangeren nach Herkunft und Vergangenheit zu beschreiben, die unbedingt zu einer Zukunft gehört, und die eine Hoffnung in sich birgt, ein Stück Wahrheit zu gebären. Es braucht Mut, sich solcher Geschichte auszusetzen. Es braucht Kraft, sie niederzuschreiben. Dem Leser wird es nicht einfach sein, das Buch auszuhalten. Doch ist es ihm dringend anzuraten.